Leseallergie an (Hoch-)Schulen

In der Ausgabe 4/18 von Forschung & Lehre hat Christiane Bender sich unter dem Titel Von der Lesewut der Wenigen zur Leseallergie der Vielen Gedanken zum aktuellen Leseverhalten an Schulen und Hochschulen gemacht. Nach ihren Überlegungen ist es heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften „keineswegs (mehr) selbstverständlich […] gundlegende Literatur an spätere Generationen“ weiterzugeben. Obwohl heute die Hilfsmittel für Begriffsdefinitionen, Erklärungen oder auch Übersetzungen, um einen Text zu entschlüsseln, wesentlich einfacher zu handhaben sind, da vieles über das Internet geklärt werden kann und ein Gang in die Bibliothek oftmals erspart bleibt, ist die „Phase großer Begeisterung von jungen Lesern für eine mehrere hundert Seiten umfassende“ Lektüre längst vorbei. „Immer mehr gilt ein Text, der nicht in unmittelbar eingängiger Sprache abgefasst ist, als nicht lesenswert. Rasch wird geurteilt: Ein Text, der nicht der Alltagskommunikation entspricht, ist eine Zumutung!“, so ihr vorgezogenes Fazit.

Die bisher geltenden Qualitätsmerkmale einer Literatur, die faszinieren kann und stets als „Segen für die Aktivierung neuronaler Netzwerke, für die Bildung von Gedächtnis und Phantasie und für eine inspirierende Sicht auf das eigene“ Leben galt, werden auf Kosten der Digitalisierung aufgegeben, wodurch der Kern unserer wichtigsten Kulturtechnik, das vertiefte Lesen, aufs Spiel gesetzt wird und die Ambivalenzen menschlichen Handelns immer fremder werden. Mit anderen Worten: „Veränderungen im Leseverhalten von Generationen betreffen das Herz von Kultur und Gesellschaft“.

Wer 50 Jahre zurückschaut, kann feststellen, dass sowohl in der Philosophie wie auch in den Gesellschaftswissenschaften lange Zeit nach dem Tod von Theodor W. Adorno (1969) und Max Horkheimer (1973) an der Frankfurter Schule immer noch „ein durch sie geprägtes, einzelne Fächer übergreifendes Erkenntnisideal“ galt, bei dem es „vor dem Hintergrund der Aneignung vielfältig verzweigter Bildungstraditionen“ um eine zur Kritik befähigten Hörer- und Leserschaft ging. Dabei stand die Fähigkeit im Vordergrund, „im klassischen Sinne Unterscheidungen zu treffen, Zusammenhänge begrifflich auseinanderzunehmen und zu analysieren“. Lehraufgaben an Schulen und Universitäten wurden ab den 70er Jahren „auf einer breiten, wenig durch Grenzen der Disziplin restringierten Lektüre“ aufgebaut.

Allerdings kam das Verschwinden der Lesekultur an Schulen und Universitäten nicht einfach über Nacht, sondern wurde bedingt durch immer mehr aufkommende Störungen in der Kommunikation. Lesebegeisterte Studenten und Dozenten trugen Ende der 1980er Jahre dazu bei, dass mitreißende Kontroversen in den Geistes- und Sozialwissenschaften über einschlägige Wahrheits-, Wissenschafts- und Methodenbegriffe stattfanden. Sektiererische Debatten zum Beispiel über die Geheimnisse der Sprechakte und der Autopoiesis fanden zunehmend nur noch an den Universitäten statt, und deren literarische Aufregungen ließen sich in den 1990er Jahren nur noch an Insider vermitteln. Dem Ansturm von Abiturienten und Studenten mit ihren zunehmend unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen und persönlichen Interessen, hielt die Lesekultur „beruhend auf individuellen Leidenschaften und kollektiv gepflegten Verhaltensmustern immer weniger stand“. Soziale Gleichheit, die durch möglichst hohe Abiturienten- und Studienanfängerquoten erreicht werden sollte, „wandelte Gymnasien in heimliche Hauptschulen (Rainer Geißler) und Universitäten in schrittweise nur noch bürokratisch steuerbare Lehranstalten um“, wodurch nicht nur nicht-akademische Berufsausbildungen abgewertet wurden, sondern auch das Abitur als Hochschulreife und universitäre Abschlüsse in ihrer Qualität einbüßten.

Heute werden Universitäten nicht mehr als ein Ort literarischer, gesellschaftlicher und persönlicher Aufklärung verstanden, da die Erwartungen vieler Studierender sich weniger „auf einen biographischen Aufbruch als vielmehr auf eine entspannte Lebensphase, häufig verbunden mit vielfältigen außeruniversitären Ambitionen“ beziehen. Lehrkräfte werden mit immer vielfältigeren Verpflichtungen innerhalb der Universitäten und der Forschung belastet, und auch an Schulen steigt die Zahl gesellschaftspolitischer Aufgaben, etwa die der Integration und Inklusion, denen sich Lehrer heutzutage stellen müssen. „Schüler und Stedenten, die heutzutage den Zugang zum abrufbaren gesellschaftlichen Wissen in ihrem Smartphone mit sich führen, fühlen sich ihren Lehrern überlegen. Der Besitz vermittelt Sicherheit, man könnte alles wissen, wenn man nur wollte“.

Ohne eine ausreichende Vorbereitung auf wissenschaftliches Arbeiten von Seiten der Schulen, sollten daher an Universitäten vermehrt Propädeutika nicht nur als Vorprüfung auf medizinische Studiengänge vorbereiten, sondern allgemein auch in den Gesellschafts- und Sozialwissenschaften absolviert werden, um die Verbreitung der Leseallergie zu überwinden. Eine „Pflege der damit verbundenen Fähigkeit des Textverstehens (deuten, interpretieren, argumentieren, assoziieren)“ könnte mit einer studienbegleitenden Mentorenschaft hilfreich sein, den in einem Studium zu bewältigenden Lesestoff durchzuarbeiten. Damit würde vielen sogenannten „Digital Natives“ geholfen, in unserem „’postfaktischen Zeitalter‘ über die nötige Lese- und Kritikkompetenz zu verfügen, um das […] Ideal der Mündigkeit nicht völlig aus den Augen zu verlieren“.