Gestrichene Utopien

Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren (Bayern) geboren und lebte an verschiedenen Orten in Deutschland, Europa, den Vereinigten Staaten von Amerika und Lateinamerika sowie einige Jahre lang auf der norwegischen Insel Tjøme. Einen seiner längsten Aufenthalte verbrachte er in Havanna, Kuba, aus dem das Buch El interrogatorio de La Habana hervorging, das in seiner spanischen Ausgabe (Anagrama, 1973, übersetzt von Michael Faber Kaiser) vier lange Essays enthält.1 Aus Protest gegenüber der US-Amerikanischen Außenpolitik hatte er im Februar 1968 seinen Fellowship am Center for Advanced Studies der Wesleyan University in Connecticut, USA, nach nur drei Monaten abgebrochen, da er „die Klasse, die die USA beherrscht, und die Regierung, die ihr als Werkzeug dient, für die gefährlichste menschliche Gruppierung der Erde“2 hielt.

Mit einem unbarmherzigen, scharfsinnigen und schonungslos ironischen Blick hat Enzensberger eine solide schöpferische Tätigkeit entwickelt, aus der zum einen sein poetisches Werk hervorsticht, zum anderen auch mehrere Essaybände. Es ist nicht verwunderlich, dass Enzensberger sowohl Dichter als auch Essayist war: Bei ihm sind Sensibilität und Emotion eng mit Klarheit und der Gedankenwelt verbunden. Daraus ergibt sich eine argumentative Poesie, in welcher einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen seine Meinung kundtut und polemisiert, sowie eine essayistische Aufgabe, die ständig an das Paradoxe und die Brecht’sche Fähigkeit zur Demontage von Situationen, die durch die Routine als natürlich gelten, appelliert.

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Laura Restrepo: Vorreiterrolle Lateinamerikas

Bild: Alfaguara

Auf der Internationalen Buchmesse (FIL) in Guadalajara fand diese Woche ein Interview mit der Schriftstellerin Laura Restrepo (Bogotá, 1950) statt, auf der sie ihren neuesten Roman Canción de antiguos amantes vorstellt, Bücher signiert und an einer Hommage für José Saramago teilnimmt.

Die Autorin ist zuversichtlich, dass sich Lateinamerika mit der neuen geopolitischen Landkarte der Region als Vorreiter etablieren wird, um als Alternative einer Welt zu fungieren, deren Aussichten sie ansonsten als fast apokalyptisch betrachtet. Lateinamerikaner denken, im Guten wie im Schlechten, die einen mehr, die anderen weniger, weiter über das soziale Problem nach, darüber, dass die Armut bekämpft werden muss, dass die Würde verteidigt werden muss. Europa ist von der Invasion in der Ukraine sehr betroffen, weil es das Gefühl hat, man sei in sein Territorium eingedrungen. „Kein Volk darf überfallen werden, aber von dort zu dieser Art von Heldentum der NATO als großer Verteidiger des Planeten ist es ein sehr großer Sprung“, sagt die kolumbianische Schriftstellerin am Rande der Buchmesse in Guadalajara. Sie hinterfragt den kriegerischen Aufruhr in einem Kontinent wie Europa, wo man anscheinend zum Krieg aufruft, „bis der letzte Ukrainer stirbt“, anstatt einen Geist des Friedens und des Dialogs zu suchen. Stattdessen würden die Länder die Gelegenheit nutzten und wie verrückt aufrüsten. Wobei das Waffengeschäft, das hinter dem Krieg steht, in den europäischen Medien nicht thematisiert wird, so die Autorin.

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Buchpremiere VHS Essen

Gestern fand in der Volkshochschule Essen die Buchpremiere der 1. Anthologie von Essener Bürgerinnen und Bürgern statt. Mit dem Titel Was ich gestern… Was ich heute… Essen unterWEGs erscheint diese Anthologie im Geest-Verlag und spiegelt die bunte Vielfalt der Stadt Essen wider, da die Beiträge gemeinsame Wege und Prägungen von Bürgerinnen und Bürgern zeigen, aber auch Kunde von ganz individuellen Lebensgeschichten geben. Neben einigen Texten, die von verschiedenen Teilnehmern gelesen wurden, rahmte Recep Seber mit seinem Kanun diese Veranstaltung musikalisch sehr passend und schön ein. Artur Nickel, der Herausgeber der Anthologie, führte durch die Veranstaltung und machte an einer Stelle deutlich, wieviel ’Aufbruch‘ in diesem Buch und somit auch in der Stadt Essen steckt.

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Frau des Jahres 2022

Das nationale Kuratorium „La Mujer del Año“ in Mexiko hat die Journalistin und Schriftstellerin Silvia Cherem zur „Frau des Jahres 2022“ gekürt.

Silvia Cherem, Journalistin und Schriftstellerin, setzt sich mit großer Leidenschaft, Exzellenz, Kreativität, Großzügigkeit und Engagement für alles ein, was sie als Berufstätige, Führungskraft, Ehefrau, Tochter, Mutter, Großmutter, Schwester und Freundin angeht. Diejenigen, die sie kennen, sagen, dass sie in der Lage ist, die Seele ihrer Gesprächspartner zu entdecken, dass sie das Einfühlungsvermögen, die Intuition und die Kraft besitzt, Fragen zu stellen, die sich niemand zu stellen traut, und dass sie es versteht, das Wesentliche zu sehen und den Leitfaden eines Lebens zu finden.

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Instituto Cervantes: Geschichte und Literatur

Bild: Instituto Cervantes

Gestern fand im Instituto Cervantes in Hamburg eine Podiumsdiskussion mit den beiden peruanischen Autoren Luis Fernando Cueto und Melacio Castro Mendoza statt. Beide Schriftsteller schilderten anschaulich ihre Arbeit, indem sie abwechselnd aus ihrer Tätigkeit berichteten und einen ersten Einblick in die Art ihrer Literatur gaben.

Luis Fernando Cueto machte dabei deutlich, wie sehr seine Bücher die peruanische Realität widergeben und dass er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit die Realität zur Fiktion werden lässt, was seine Romane in das Genre der nicht-fiktionalen Literatur einordnet. Dabei handelt es sich um einen paradoxen und schwer zu definierenden Begriff, der versucht, ein Genre (den Roman), das für alle gleichbedeutend mit Fiktion ist, durch seine Nicht-Fiktionalität zu charakterisieren. Hier können zwei verschiedene Arten auftreten: eine Erzählung, deren Autor entweder eine Geschichte erfunden hat, die den Anschein eines Zeugnisses erweckt, oder ein wahres Zeugnis, welches mit ausdrücklicher literarischer Absicht zu einem Roman umgeschrieben wurde. Letzteres trifft ein Stück weit auch auf die Romane von Cueto zu, der dafür beispielhaft seine Romane Cosecha de tiburones und Ese camino existe nannte.

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Marinera – Ein letzter Tanz

Heute ist der zweite Roman von Melacio Castro Mendoza unter dem Titel Marinera. Ein letzter Tanz auf Deutsch erschienen.

Der Roman, der die Geschichte Perus im 20. Jahrhundert mit der Geschichte zweier Waisenkinder verknüpft, die von wirtschaftlich ungleichen Familien adoptiert werden, führt inmitten der Gewalt, die das Land erschüttert, auf zwei unterschiedlichen Wegen beide vor der Kulisse des peruanischen Tanzes La marinera in die deutsche Stadt Hamburg. Die politische Gewalt in Peru wird ihr Schicksal bis zu einem ungewissen Ende beeinflussen. Damit bietet Melacio Castro Mendoza ein starkes soziales und antirassistisches Plädoyer. Sein hoch literarischer Stil macht „Marinera“ zu einer besonderen Leseerfahrung.

Auf die kürzlich erschienene Neuauflage bei Editorial Adarve habe ich ja hier bereits hingewiesen. Die von mir übersetzte Version kann sowohl direkt bei ePubli, als auch auf den gängigen Plattformen wie Amazon, Thalia, Hugendubel oder Weltbild bestellt werden.

Neuauflage „La última marinera“

Der Roman La última marinera von Melacio Castro Mendoza, auf den ich bereits im letzten Jahr hingewiesen hatte, ist jetzt in einer Neuauflage bei Editorial Adarve erschienen.

Bild: Editorial Adarve

In der Ankündigung schreibt der Verlag:

„Ein Roman, der die Geschichte Perus im 20. Jahrhundert mit der Geschichte zweier Waisenkinder verknüpft, die von wirtschaftlich ungleichen Familien adoptiert werden. Inmitten der Gewalt, die das Land erschüttert, führen zwei unterschiedliche Wege ihn und sie vor der Kulisse des peruanischen Tanzes La marinera in die deutsche Stadt Hamburg. Die politische Gewalt in Peru wird ihr Schicksal bis zu einem ungewissen Ende beeinflussen. Dies ist ein starkes soziales und antirassistisches Plädoyer.“

Das Buch ist gleichzeitig in Spanien und in Peru erschienen.

Bad Mexicans

Bad Mexicans: Race, Empire, and Revolution in the Borderlands

Bild: W. W. Norton & Company, Inc.

Bad Mexicans erzählt die dramatische Geschichte der magonistas, der Migranten-Rebellen, die 1910 von den Vereinigten Staaten aus die mexikanische Revolution auslösten. Angeführt von einem brillanten, aber schlecht gelaunten Radikalen namens Ricardo Flores Magón waren die magonistas eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Journalisten, Bergarbeitern, Wanderarbeitern und anderen, die Tausende von mexikanischen Arbeitern und amerikanischen Dissidenten für ihre Sache organisierten. Entschlossen, den mexikanischen Diktator Porfirio Díaz zu stürzen, der die Ausplünderung seines Landes durch US-Imperialisten wie Guggenheim und Rockefeller förderte, mussten die Rebellen den Schwarm der US-Behörden, die das Díaz-Regime schützen sollten, überlisten und vor ihnen davonlaufen. Das Kriegs-, das Außen-, das Finanz- und das Justizministerium sowie Polizei, Sheriffs und Spione jagten die magonistas im ganzen Land. Die Festnahme von Ricardo Flores Magón war einer der ersten Fälle für das FBI.

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Nachrichten aus „Abya Yala“?

Mehrfach habe ich bereits über die Lateinamerika Nachrichten berichtet, so zum Beispiel über die neue Abokampagne oder über die Februar-Ausgabe 2019 und die Juni-Ausgabe 2019. Manchmal waren darin auch gute Artikel zu finde, wie zum Beispiel über die Waldbrände in Amazonien. Dass es sich um eine links-progressive Zeitschrift handelt, die als Redaktionskollektiv seit fast 50 Jahren an emanzipatorische Kämpfe hier in Deutschland und in Lateinamerika anknüpft und sich bemüht, eine differenzierte, kritische und solidarische Berichterstattung vor allem hinsichtlich (neo-)kolonialer Machtverhältnisse zu liefern, war mir dabei schon immer bewusst. Seit der Gründung haben dekoloniale Themen einen festen Platz und der Umgang mit ihnen wie auch das Selbstverständnis entwickeln sich in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit emanzipatorischen Kämpfen. Nach dem Beginn als Chile Nachrichten aus Solidarität mit dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende kurz vor dem Putsch 1973 gegen ihn, erweiterte sich der Fokus der Zeitschrift auf die benachbarten Militärdiktaturen der 1970er Jahre, weshalb sie das damals wie heute gebräuchliche Wort „Lateinamerika“ in den Namen mit aufnahmen.

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19. September 1985

Es ist nicht einfach, sich ganz genau und Schritt für Schritt daran zu erinnern, was man vor ein paar Tagen, gestern, vor einer Woche, vor einem Monat, geschweige denn vor über 30 Jahren getan hat. Aber wenn das Ereignis so vernichtend, so erschütternd war, dann bleibt manchmal sogar der kleinste Seufzer in Erinnerung.

1985 Mexico Earthquake - Pina Suarez Apartment Complex
United States Geological Survey, Public domain, via Wikimedia Commons

Am 19. September 1985, um 7:19 Uhr, schlief ich noch in meinem Zimmer, als ich durch ein leichtes Rütteln und Knarren meines Bettes geweckt wurde und mich nur mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Die Bewegung wurde stärker, und erschien mir lang, sehr lang anhaltend. Schließlich hörte es auf und ich lag immer noch in meinem Bett, ehrlich gesagt, war ich einfach zu faul, aufzustehen, denn erst um 10 Uhr war Schulbeginn, es war also noch Zeit, dachte ich, als meine Schwester an die Tür meines Schlafzimmers hämmerte und mit Geschrei und wild gestikulierend Dinge sagte, die ich nicht verstand. Ich sagte zu ihr: „Beruhige dich, ich weiß, dass es gebebt hat, sei unbesorgt…“

„Ja Laura, aber die Stadt ist eingestürzt!“

„Die Stadt ist eingestürzt!“, eine Sprungfeder warf mich aus dem Bett, und ich rannte ins Wohnzimmer, wo meine Mutter und meine jüngere Schwester fernsahen, da bemerkte ich den Lärm, der in der Ferne zu hören war, Streifenwagen und umher rennende Menschen.

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