19. September 1985

Es ist nicht einfach, sich ganz genau und Schritt für Schritt daran zu erinnern, was man vor ein paar Tagen, gestern, vor einer Woche, vor einem Monat, geschweige denn vor über 30 Jahren getan hat. Aber wenn das Ereignis so vernichtend, so erschütternd war, dann bleibt manchmal sogar der kleinste Seufzer in Erinnerung.

1985 Mexico Earthquake - Pina Suarez Apartment Complex
United States Geological Survey, Public domain, via Wikimedia Commons

Am 19. September 1985, um 7:19 Uhr, schlief ich noch in meinem Zimmer, als ich durch ein leichtes Rütteln und Knarren meines Bettes geweckt wurde und mich nur mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Die Bewegung wurde stärker, und erschien mir lang, sehr lang anhaltend. Schließlich hörte es auf und ich lag immer noch in meinem Bett, ehrlich gesagt, war ich einfach zu faul, aufzustehen, denn erst um 10 Uhr war Schulbeginn, es war also noch Zeit, dachte ich, als meine Schwester an die Tür meines Schlafzimmers hämmerte und mit Geschrei und wild gestikulierend Dinge sagte, die ich nicht verstand. Ich sagte zu ihr: „Beruhige dich, ich weiß, dass es gebebt hat, sei unbesorgt…“

„Ja Laura, aber die Stadt ist eingestürzt!“

„Die Stadt ist eingestürzt!“, eine Sprungfeder warf mich aus dem Bett, und ich rannte ins Wohnzimmer, wo meine Mutter und meine jüngere Schwester fernsahen, da bemerkte ich den Lärm, der in der Ferne zu hören war, Streifenwagen und umher rennende Menschen.

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Ablehnung der neuen Verfassung Chiles

Nach Jahren des vielleicht wichtigsten politischen Wandels in der jüngeren Geschichte Chiles, der mit dem sogenannten Primavera 2019 begann und zur Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung führte, lehnten die Chilenen das ab, was den Höhepunkt dieses politischen Wandels darstellen sollte: Sie sagten Nein zu einer neuen Verfassung, welche die während der Diktatur von Augusto Pinochet verabschiedete Verfassung ersetzen sollte. Allerdings scheint der Prozess hier noch nicht zu Ende zu sein, denn sowohl die Regierung als auch die Opposition haben versprochen, sich um eine neue Verfassung zu bemühen, nicht aber um eine Reform der derzeitigen Verfassung. Die Chilenen lehnten den Vorschlag für eine fortschrittliche Verfassung, die ein breiteres Spektrum an Stimmen in dem wichtigsten Dokument des Landes widerspiegeln sollte, rundweg ab. Die vorgeschlagene Verfassung über die sozialen Rechte findet zwar breite Unterstützung, und es ist klar, dass der Staat diese Rechte garantieren sollte, aber die Art und Weise, wie diese neue Charta vorgeschlagen wurde, sorgte im Vorfeld für Unruhe.

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Karl May auch für das 21. Jahrhundert eine lohnende Lektüre

Karl May, der häufig auf einige Film-Klischees reduziert wird, verdient eine differenzierte Betrachtung. Seine überaus einflussreiche Repräsentation außereuropäischer Kulturen ist selbst längst Teil der europäischen Kulturgeschichte und lehrreiches Exempel einer produktiven und autoreflexiven Begegnung mit Alterität. Gerade weil in seinen Texten Vorurteile vorausgesetzt, verbalisiert, bekämpft und überwunden werden, ist er keineswegs ›überholt‹, sondern auch für das 21. Jahrhundert eine lohnende Lektüre.

Auf der Plattform Petitionen [dot] com ist jetzt im Zuge der von dem Ravensburger Verlages zurückgezogenen Publikationen ein offener Brief unter dem Titel „Ist Winnetou erledigt?“ von der Karl-May-Gesellschaft un der Karl-May-Stiftung veröffentlicht worden. Die Entscheidung des Ravensburger Verlags, aufgrund eines in den sozialen Medien erhobenen Rassismusvorwurfes mehrere Publikationen rund um den Film Der junge Häuptling Winnetou zurückzuziehen, hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst.

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Siegfried Lenz Preis 2022 geht an Elizabeth Strout

Mit dem Siegfried Lenz Preis sollen internationale Schriftstellerinnen und Schriftsteller ausgezeichnet werden, die mit ihrem erzählerischen Werk Anerkennung erlangt haben und deren schöpferisches Wirken dem Geist von Siegfried Lenz nah ist. Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 50.000 Euro dotiert. Preisträgerin 2022 ist die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout. Damit ehrt die Siegfried Lenz Stiftung eine herausragende Erzählerin, die es versteht, mit wenigen Strichen das Panorama von Kleinstädten mit all ihren provinziellen Beschränkungen zu entfalten. Auf denkbar knappe Weise bündelt Strout menschliche Verhaltensweisen. Sie zeigt die Niedertracht und die Hilflosigkeit ihrer Akteure und deren Sprachlosigkeit und Traurigkeit darüber, was im Leben verpasst wurde. Gleichzeitig mischen die Romane Humor und Tragik und lassen allen Schicksalsschlägen zum Trotz jene Glücksmomente aufblitzen, die das Leben zu meistern helfen.

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Cosecha de tiburones – Haifischfang

In seinem Roman Cosecha de tiburones befasst sich Luis Fernando Cueto mit der neuen lateinamerikanischen Kriminalität, die in Verbindung mit der Politik zu Korruption, organisiertem Verbrechen, Auftragsmorden und Drogenhandel führt. Doch seine Kenntnisse der polizeilichen Ermittlungen und der Unterwelt machen Cosecha de tiburones zu einem politischen Roman der anderen Art, „a la peruana“. Nach dem Mord an einem Journalisten findet ein Polizeikommissar heraus, dass der Ministerpräsident einer peruanischen Region der Kopf einer kriminellen Organisation ist. Dessen Tentakel der Korruption reichen bis zu Kongressabgeordneten und Ministern und er ist bestrebt, sich der Steuereinnahmen in der Region zu bemächtigen. Unter diesen Umständen muss der Kommissar eine verdeckte, geheime Untersuchung durchführen. Ein neues Verbrechen jagt das nächste, ein Krieg zwischen Auftragskillern bricht aus, die Gewalt scheint kein Ende zu nehmen, aber ein unerwartetes Ereignis verändert alles. Doch gerade als er glaubt, den Fall gelöst zu haben, stellt der Kommissar fest, dass es über der Mafia, die er bekämpft hat, eine größere, allmächtigere gibt, die das ganze Land beherrscht.

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Neue Verfassung in Chile

Am 4. Juli 2022 hat der Verfassungskonvent in Chile seinen fertigen Entwurf einer neuen chilenischen Verfassung offiziell an Chiles Präsidenten Gabriel Boric übergeben. Am 4. September 2022 sollen alle Chilenen in einem verpflichtenden Referendum darüber abstimmen. In den Lateinamerika Nachrichten (Nr. 577/578 – Juli/August 2022) wurde nun ein Interview mit Manuela Royo, einer Vertreterin des Verfassungskonvent im Distrikt 23 in der Region Araucanía, veröffentlicht. Augenmerk in dem Interview liegt in den Umweltaspekten und welchen Wert die Umwelt nun in der neuen Verfassung hat.

Schon im ersten Artikel der neuen Verfassung wird festgeschrieben, dass Chile ein ökologischer Staat ist, zu dessen wichtigsten Werten der Respekt vor den Rechten der Natur und der Abhängigkeit des Menschen von der Natur zählen. „Damit ist gemeint, dass die Natur keine Ressource ist, aus der wir unbegrenzten wirtschaftlichen Vorteil für Wachstum ziehen können. Stattdessen ist es wichtig, zu betonen, dass die Natur Rechte hat, die der Staat und die Menschen respektieren und gewährleisten müssen.“ Der Mensch ist Teil der Natur und kann ohne sie nicht leben, weshalb heute Themen wie Ernährung und Wasser genauso große Bedeutung wie die wirtschaftliche Stabilität haben. Die neue chilenische Verfassung ist demnach die erste Verfassung, die vor dem Hintergrund des Klimawandels geschrieben wurde.

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Ese instante – Dieser eine Moment

In einer Sekunde zerbricht das Leben und alles wird auseinandergerissen: Die Chronik einer Frau, die einen Tsunami überlebt hat; die Hölle des Bombenanschlags auf das World Trade Center in New York; Lähmung aller vier Gliedmaßen nach einem unwahrscheinlichen tödlichen Unfall; eine Geburt mit AIDS; das Verschwinden einer Tochter; und drei Todesfälle und eine Wiederauferstehung durch Covid-19.

Selten erreicht eine Nacherzählung von Chroniken ein perfektes Gleichgewicht zwischen Schmerz und Hoffnung, Verzweiflung und Wille: Ese instante von Silvia Cherem erreicht es und übertrifft es. Diese Seiten erzählen von den Tagen des Grauens einer Überlebenden eines Tsunami; vom Schrecken und der Rettung einer Frau während des Terroranschlags auf die Zwillingstürme; von der immensen geistigen Kraft eines Mannes nach einem absurden, tödlichen Autounfall; von der Verurteilung und dem Kampf einer unvergesslichen, mit HIV infizierten Frau; vom krankhaften Rätsel einer jungen Frau, die in der mexikanischen Karibik verschwand; und vom erbitterten Kampf gegen den Tod und der anschließenden Wiederauferstehung eines Covid-19-Erkrankten.

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Zwischen Erinnern und Vergessen

Bild: transcript.open

Eine neue Publikation zur Colonia Dignidad beleuchtet verschiedene Facetten dieser deutschen Siedlung in Chile: Die Dissertation von Meike Dreckmann-Nielen mit dem Titel Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen. Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft analysiert den Umgang mit der Vergangenheit innerhalb der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft.

Die Colonia Dignidad erlangte wegen zahlreicher bis heute unaufgeklärter Menschenrechtsverbrechen internationale Bekanntheit. Die Tatsache, dass einstige Mitglieder der deutschen Gruppe das historische Siedlungsgelände in Chile unter dem Namen »Villa Baviera« (dt. bayerisches Dorf) schrittweise zu einem touristischen Freizeitort umfunktioniert haben, sorgt angesichts der mangelnden Aufarbeitung für anhaltende Kritik. Meike Dreckmann-Nielen hat für ihre Dissertation untersucht, wie sich einstige Mitglieder der Gruppe heute an ihre eigene Vergangenheit erinnern. In ihrer Studie ermöglicht sie einen intimen Einblick in komplexe erinnerungskulturelle Dynamiken im Mikrokosmos dieser ehemaligen Siedlungsgemeinschaft.

In ihrer Danksagung äußert die Autorin die Hoffnung, einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten zu können, und widmet das Buch deshalb allen Betroffenen, denen entweder in der Colonia Dignidad oder durch sie Leid zugefügt wurde. Und auch denjenigen Personen, die sich von Beginn an für die Aufklärung der begangenen Verbrechen eingesetzt haben. Das Buch kann als open access bei [transcript] heruntergeladen werden. Dort ist auch die Printausgabe erhältlich.

Die Strasse zum 10. Juli

Nona Fernández zählt heute zu den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen der chilenischen Literatur. Die Schauspielerin, die sich als Drehbuchautorin für Telenovelas ihren Lebensunterhalt verdient, schreibt auch Theaterstücke und hat mittlerweile zahlreiche Preise für ihr literarisches Schaffen erhalten, u. a. 2003 (für Die Toten im trüben Wasser des Mapocho) und 2008 (für Die Straße zum 10. Juli) den chilenischen Literaturpreis Premio Municipal de Literatura in der Kategorie Bester Roman. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt und erlangten im spanischsprachigen Raum schon viel Beachtung, ebenso wie ihre Erinnerungsarbeit auf der Bühne. Denn ihre Bedeutung als Schriftstellerin besteht nicht nur darin, Geschichten zu schreiben, sondern insbesondere darin, dass sie aktiv an chilenischer Geschichte mitschreibt, historische Lücken und Umdeutungen anmahnt, an die Vergessenen erinnert und das Schweigen bricht. In ihrem Roman Die Straße zum 10. Juli (Originaltitel Av. 10 de julio Huamachuco, übersetzt von Anna Gentz) tut sie dies zum ersten Mal auch mit der von dem deutschen Paul Schäfer in Chile begründeten Colonia Dignidad und zieht damit erstmals eine explizite Verbindung zur deutschen Geschichte.

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Kultureller Postkolonialismus in Zeiten der „soft power“

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) beschreibt den Begriff „soft power“ [engl.: »weiche Macht«] als eine besondere Form der Machtausübung von Staaten und politischen Akteuren über andere Staaten und Gesellschaften. Zu den Mitteln der „soft power“ zählen, im Unterschied zur „hard power“ [engl. »harte Macht«] mit militärischen Ressourcen, die Vorbildfunktion, Attraktivität und die Vermittlung eigener Normen und Werte. Dabei ist das Spektrum sehr weit gefasst: es reicht von der Anziehungskraft des »American Way of Life« bis zu westlichen Werten wie Demokratie und Menschenrechte, die als Maßstab und Vorbild dienen und zu einer nicht militärischen Konfliktlösung in internationalen Beziehungen beitragen. Geprägt wurde der Begriff in den späten 1980er Jahren vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph S. Nye Jr.

Zu Postkolonialismus schreibt die bpb, dass viele der Aspekte aus dem Kolonialismus nicht zuletzt dank der Anregungen der Postcolonial Studies ins Zentrum der Kolonialgeschichtsschreibung gerückt sind. Diese Forschungsrichtung entstand in den 1980er Jahren, meist unter Bezug auf das Buch Orientalismus von Edward Said. Die Perspektive ist jedoch älter, und bereits bei Mahatma Gandhi, Frantz Fanon oder Aimé Césaire in der Nachkriegszeit finden sich Positionen, die eine ähnlich gelagerte Kritik am kolonialen Diskurs formuliert haben.

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