Valparaíso in Ruinen

Die Stadt Valparaíso in Chile könnte aufgrund der labyrinthischen Struktur ihrer Straßen, Gassen und Treppen als eine Darstellung des tief Unbewussten betrachtet werden. Allerdings haben Denkmalschützer mehrere Phasen der Zerstörung von Valparaíso schon vor dem Angriff im Oktober 2019 festgestellt. Dennoch scheint die jüngste, die zu diesem Zeitpunkt begann, die verheerendste Zerstörung von allen gewesen zu sein: eine Überstürzung, die durch die interne Vandalisierung der Stadt und die kollektive Ekstase über die Ausbreitung eines Höllenfeuers mit ihren bleibenden Auswirkungen bis zum heutigen Tage gekennzeichnet war.

Neben den Plünderungen, der Zerstörung öffentlicher und privater Infrastruktur und dem leidenschaftlich vernichtenden lumpenconsumismo (vgl. Lucy Oporto Valencia) zeigen spätere Episoden die Entwicklung eines Kontinuums dieses Prozesses des materiellen und moralischen Ruins von Valparaíso. Ein Höhepunkt mit internationaler Ausstrahlung war die Performance des feministischen Kollektivs LasTesis „Un violador en tu camino“, die am 20. November 2019 auf der Plaza Aníbal Pinto in Valparaíso stattfand, kurz nach der Unterzeichnung des „Acuerdo por la Paz y la Nueva Constitución“, des „Abkommens über Frieden und die neue Verfassung“. Innerhalb weniger Tage wurde „Un violador en tu camino“ im ganzen Land an unterschiedlichen Orten wiederholt präsentiert. Massenansammlungen von Frauen in vielen anderen Ländern führten mit verbundenen Augen eine Choreographie auf, begleitet von einem Kampfruf, der – so die Dozentin, freie Autorin und Übersetzerin Karen Genschow – unter anderem auch diese Zeile enthält: „Und es war nicht meine Schuld, nicht wo ich war, nicht was ich trug. Der Vergewaltiger warst du.“

Bild: S. Fischer Verlag

Quemar el miedo. Un manifiesto (Planeta, 2021. Deutsch: Verbrennt eure Angst. Ein feministisches Manifest. Übersetzt von Svenja Becker. S. Fischer Verlag, 2021) fasst Texte der Einmischungen von LasTesis zusammen. Im „Manifest gegen Polizeigewalt“ – das in einer am 28. Mai 2020 von Pussy Riot veröffentlichten Video-Performance enthalten ist – beschuldigen sie die uniformierte Polizei, die Carabineros de Chile, des gewalttätigen Vorgehens, direkt und nicht metaphorisch, ohne Beweise zu liefern. Auch enthält es Formulierungen wie: „Heute mehr denn je können wir den Gegenangriff erzwingen“ und „die Institution der Polizei zerstören“.

Die Carabineros zeigten sie aufgrund dessen wegen „Missachtung der Autorität“ und „Aufstachelung zur Gewalt“ an. Daraufhin berief sich LasTesis dann auf „Poesie“, „Metapher“, „Kunst“ und „Aktivismus“, deren Sprache sie immun gegen Kritik machen würde, und warfen ihnen mit dieser Reaktion eine gewisse wortwörtliche Auslegung vor, die mit ihrer Video-Performance verbunden sei. Und da LasTesis nicht in der Lage ist, die Verantwortung für ihre Worte zu übernehmen, betrachteten sie diese Anschuldigungen einfach als einen direkten Angriff und einen Akt der Einschüchterung und Zensur und machten sich über die Carabineros lustig. Die Klage wurde im Januar 2021 abgewiesen. Ihre viktimisierende Legitimation der Barbarei und ihre Faszination für das Feuer („Juntas quemamos“) machen LasTesis zu einem Teil des Untergangs von Valparaíso.

Vor dem Hintergrund von Zerstörung und Tod gibt es diese und andere Darbietungen (Las Indetectables vom 27. August 2022 und die Performance von Cheril Linett und Yeguada Latinoamericana am 11. September 2023), die ein gemeinsames Merkmal haben: ihre mehr oder weniger große Harmonie mit der herrschenden sexuellen Inkontinenz, in der die Erotik in Fäulnis versinkt und die Pornographie sich als Propaganda mit subversivem Anspruch aufdrängt. Ihr tendenziöser und rachsüchtiger Vormarsch ist ein Indiz für die Auflösung und Untergrabung jeder inneren Ordnung. Die Labyrinthe von Valparaíso sind nicht länger „eine Goldgrube der Fantasie“ (Joaquín Edwards Bello: Crónicas. Zig-Zag, 1964). Sie sind jetzt Mülldeponien, entweihte menschliche Räume, Indizien für eine längst ausgebrütete Entweihung.