
Die von Augusto Pinochet angeführte zivil-militärische Diktatur in Chile spaltete nicht nur das Land, sondern auch viele Familien. Das Buch La resaca de la memoria. Herencias de la memoria von Verónica Estay Stange erzählt die Geschichte eines Mädchens, später dann eine Frau, Tochter von Überlebenden im Exil und gleichzeitig Nichte eines der symbolträchtigen Täter der Diktatur: Miguel Estay Reyno, alias „El Fanta“. Diese/s Mädchen/Frau steht vor der Herausforderung, sich inmitten von Geheimnissen, verfälschten Wiedergaben, Lügen und unerträglichen Wahrheiten eine eigene Geschichte auszudenken.
Nichts von alledem hat sie selbst erlebt, und doch schmerzt es sie. Sie wurde nicht im Land ihrer Eltern geboren, und doch vermisst sie es. Es sind nicht ihre Erinnerungen, und doch verfolgen diese sie. Schwindel. Übelkeit. Eine jahrhundertealte Müdigkeit, eine teuflische Melancholie… Was ist die Ursache ihres Leids? Der Kater, Überreste, welche die Welle einer sich zurückziehenden Geschichte hinterlassen hat, und der Kater, mit dem man, nach dem Aufruhr der Ereignisse, morgens aufwacht, oder geboren wird, oder aufwächst. Es ist das Leid einer ganzen Generation, die durch Gewalt geschädigt wurde.
Nachkommen ehemaliger politischer Gefangener, Folteropfer, verschwundener Häftlinge, der Exilanten, der Neutralen, der Täter: Sie alle tragen den Tod oder das Überleben mit sich, erfüllt und leer von einer Vergangenheit, die in ihrem ständigen Rückzug nicht vergeht. La resaca de la memoria versetzt uns in eine intime Erzählung, die aufgrund ihrer ethischen Zerrissenheit einen universellen Charakter annimmt. Der Text vertieft dabei ein Thema, das auch für den deutschen Kontext von Interesse ist: die Verwandtschaft mit Tätern und die Reflexion darüber, welche Beziehung zu diesem konfliktbehafteten Erbe aufzubauen möglich ist.
Verónica Eestay Stange wurde 1980 in Mexiko geboren, nachdem ihre Eltern aus Chile ins Exil gegangen waren. Als Tochter von Überlebenden ist sie Vizepräsidentin der Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener Chiles in Frankreich. Als Nichte eines für Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verantwortlichen ist sie Präsidentin der Vereinigung Historias desobedientes-Chile. Familiares de genocidas por la memoria, la verdad y la justicia, an deren Gründung sie beteiligt war. Mit einem Doktortitel in französischer Sprache und Literatur und einem Postdoktorat in zeitgenössischer Kunst, lehrt sie am Institut für politische Studien in Paris und an der Universität Paris Cité. Sie ist Autorin mehrerer Bücher.