Die „große Mama“ des lateinamerikanischen boom

Renommierte Autoren und Verleger erinnerten auf der diesjährigen Buchmesse FIL Guadalajara an Carmen Balcells, die „große Mama” des lateinamerikanischen boom, und würdigten die Karriere der Agentin, die große Namen der lateinamerikanischen Literatur förderte und die Beziehung zwischen Autoren und Verlagen in der hispanischen Welt veränderte. In einer gut besuchten Veranstaltung, an welcher der Schriftsteller Eduardo Mendoza, die Akademikerin und Autorin Carme Riera, der Verleger José Calafell und der Journalist Xavi Ayén teilnahmen, wurde die verstorbenen Literaturagentin geehrt.

Zu Beginn wurde Balcells als „die einflussreichste Literaturagentin des 20. Jahrhunderts, insbesondere im spanischsprachigen Raum“ vorgestellt, die Autoren gegenüber Verlegern zu einer Zeit verteidigte, als diese noch Verträge auf unbegrenzte Zeit abschlossen. Ihr Einfluss erstreckte sich auf Lateinamerika und den Rest der Welt, und sie erreichte, dass „kommerzieller Erfolg mit literarischer Qualität einherging“. In ihrem Katalog der vertretenen Autoren befanden sich sechs Nobelpreisträger, darunter Gabriel García Márquez, Pablo Neruda und Federico Vargas Llosa, sowie weitere lateinamerikanische Autoren wie Carlos Fuentes, Julio Cortázar, José Donoso oder Alfredo Bryce Echenique, sowie die Spanier Eduardo Mendoza, Manuel Vázquez Montalbán und Juan Marsé.

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Der Kater der Erinnerung

Bild: LOM Ediciones

Die von Augusto Pinochet angeführte zivil-militärische Diktatur in Chile spaltete nicht nur das Land, sondern auch viele Familien. Das Buch La resaca de la memoria. Herencias de la memoria von Verónica Estay Stange erzählt die Geschichte eines Mädchens, später dann eine Frau, Tochter von Überlebenden im Exil und gleichzeitig Nichte eines der symbolträchtigen Täter der Diktatur: Miguel Estay Reyno, alias „El Fanta“. Diese/s Mädchen/Frau steht vor der Herausforderung, sich inmitten von Geheimnissen, verfälschten Wiedergaben, Lügen und unerträglichen Wahrheiten eine eigene Geschichte auszudenken.

Nichts von alledem hat sie selbst erlebt, und doch schmerzt es sie. Sie wurde nicht im Land ihrer Eltern geboren, und doch vermisst sie es. Es sind nicht ihre Erinnerungen, und doch verfolgen diese sie. Schwindel. Übelkeit. Eine jahrhundertealte Müdigkeit, eine teuflische Melancholie… Was ist die Ursache ihres Leids? Der Kater, Überreste, welche die Welle einer sich zurückziehenden Geschichte hinterlassen hat, und der Kater, mit dem man, nach dem Aufruhr der Ereignisse, morgens aufwacht, oder geboren wird, oder aufwächst. Es ist das Leid einer ganzen Generation, die durch Gewalt geschädigt wurde.

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Blinder Fleck

Bild: Penguin Random House

Das Buch Zona ciega von Lina Meruane beleuchtet den Ausbruch der Gewalt im Oktober 2019 in Chile aus literarischer und analytischer Sicht und spielt auf die Menschen an, die bei den Protesten ihr Augenlicht oder einen Teil davon verloren haben. „Eines Morgens Mitte Oktober öffneten sich meine trockenen Augen vor einem kleinen Bildschirm voller riesiger Schlagzeilen und Nachrichten mit Ausrufen aus verschiedenen Städten der Welt, in denen gefragt wurde, was in Chile passierte… Das Land war explodiert, das Zentrum von Santiago war zum Ground Zero geworden“, schreibt sie.

„Die Augen öffnen. Sie öffnen und schauen, wie wir noch nie zuvor geschaut haben.“

Es handelt sich bei diesem Buch um eine Meditation, die politische Chronik, Literaturkritik und biografische Erzählung miteinander verbindet, um eine erstaunliche Anzahl von Geschichten rund um das Auge zu verweben.

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Das Unbehagen denken

Der 18. Oktober 2019 hat eine Flut von Büchern hervorgebracht, von denen einige Texte es geschafft haben, einen Teil dieser Zeit zu definieren, als das Land Chile praktisch in Flammen stand. Von Chronisten bis zu Historikern, Philosophen und Romanautoren bieten sie unterschiedliche und manchmal auch gegensätzliche Ansichten.

Das Buch Pensar el malestar. La crisis de octubre y la cuestión constitucional von Carlos Peña befasst sich mit drei Problemen, die mit dem Ausbruch der Gewalt im Oktober 2019 in Chile zusammenhängen: 1. soziale Bewegungen und Krise; 2. fehlende Grundlagen für ein gemeinsames Leben und die Ambivalenz der Moderne; 3. die Verfassungsfrage. Es analysiert das Paradoxon der Revolte: Eine Gesellschaft, die prosperierte und es geschafft hatte, die extreme Armut auf 3 % zu senken, setzte die Straßen in Brand und füllte die Wände mit Beleidigungen und leeren Phrasen, in der Illusion, dass alles erlaubt ist.

Carlos Peña setzt in diesem Essay die Analyse fort, die er in Lo que el dinero sí puede comprar (dt. etwa Was man mit Geld kaufen kann) begonnen hat. Während er in jenem Text die Ambivalenz der kapitalistischen Moderne untersuchte und argumentierte, dass sie eine Dialektik aus Fortschritt und Enttäuschung sei, befasst er sich nun mit den Ursachen für die Unruhen und gewalttätigen Proteste, die seit Freitag, dem 18. Oktober 2019, in Chile zu beobachten sind. Das Hauptproblem der Öffentlichkeit sei, dass es kein klares Bewusstsein für das Übel gebe, unter dem die chilenische Gesellschaft leide. Dieses Übel zu identifizieren – ohne dabei in die in der öffentlichen Meinung vorherrschende Moralisierung zu verfallen – ist das Ziel dieses Essays.

Die zweite Moderne (1920-1973)

Bild: LOM Ediciones

LOM Ediciones in Santiago de Chile hat jetzt den Band IV von Historia Crítica de la Literatura Chilena in zwei Teilen herausgegeben. Aufgrund des Umfangs des behandelten Zeitraums zu der Geschichte der chilenischen Literatur musste diese Band in zwei Teile aufgeteilt werden. Der Zeitraum, mit dem sich dieser Band IV beschäftigt – gewidmet der Literatur des zweiten Modernisierungsprozesses, vom Aufkommen der Avantgarde um 1920 bis 1973 –, ist der fruchtbarste in der Geschichte der chilenischen Literatur und erklärt den ungewöhnlichen Umfang des Bandes. Er ist Teil einer Kultur, in welcher der Respekt vor dem geschriebenen Wort sowohl seitens des Staates als auch seitens der Bürger allgemein anerkannt war, und in der einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der chilenischen Literatur hervortraten. Und zwar nicht nur für ihre eigene Geschichte, sondern auch für die Geschichte der lateinamerikanischen und weltweiten Literatur.

Bild: LOM Ediciones

Mit den zu erwartenden Überlagerungen, den Vorwegnahmen und anhaltendem Fortdauern konnten drei Etappen ausgemacht werden. Die erste gehört hauptsächlich zur Avantgarde und zur Postavantgarde, dessen Meister Vicente Huidobro ist, der hier die Marschroute festlegt. Die zweite Phase, von der zweiten Hälfte der 1930er bis Anfang der 1960er Jahre, ist geprägt vom Erscheinen von Tala y Lagar von Gabriela Mistral, Canto general von Pablo Neruda, Poemas y antipoemas von Nicanor Parra, La última niebla von María Luisa Bombal und den Erzählern von 1938 (Nicomedes Guzmán, Juan Godoy und einige andere). Aus dieser Zeit stammen auch die Dramatiker, die mit den Universitätstheatern in Verbindung stehen, sowie der beste Roman, der jemals in Chile geschrieben wurde, Hijo de ladrón von Manuel Rojas. Schließlich tauchten zwischen den 1960er Jahren und dem Putsch in Chile im Jahr 1973 bedeutende Dichter wie Enrique Lihn und Jorge Teillier auf, zusammen mit den Erzählern der Generation von 1950, unter denen José Donoso und Jorge Edwards am meisten hervorstachen.

Mistral – Una vida

Bild: Lumen – PRH

Mistral. Una vida ist die bislang umfassendste Biografie einer bedeutenden Dichterin der modernen Literatur. Elizabeth Horan, renommierte Expertin für die Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, rekonstruiert deren Lebensweg anhand einer sorgfältigen Auswertung des persönlichen Archivs der Autorin, dessen beeindruckende Korrespondenz es ermöglicht, Irrwege, Leiden und Leidenschaften, vor allem aber ihren unvergleichlichen Charakter zu ergründen. Ihre Kindheit in Elqui, ihre wichtigsten Beziehungen und Freundschaften, ihre Jahre als Lehrerin in verschiedenen Städten Chiles, ihre Verbindungen zu Argentinien, ihre intime Beziehung zu Laura Rodig, ihr früher Kontakt zu Pablo Neruda und anderen bedeutenden Schriftstellern und Politikern werden in diesem kolossalen Projekt detailliert dargestellt. Eine gründliche, langwierige Untersuchung, die wenig bekannte Aspekte aus Mistrals Biografie aufzeigt und ihre Lebensumstände sowie den Umgang mit ihrem engsten Kreis beleuchtet. Ein unverzichtbares Werk, um diese großartige chilenische Autorin neu zu entdecken, die sich vor allem als eine Person mit eisernem Willen offenbart, als jemand, der sich mit Klugheit und Entschlossenheit in einer feindseligen Welt zu bewegen wusste, um das zu werden, was sie sein wollte.

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Juan de Quintil: Inxilio

Bild: Ediciones Inubicalistas

Das Werk Inxilio ist ein Gedichtband des chilenischen Autors Juan de Quintil (Pseudonym von Hernán Carvajal). Darin arbeitet er eine Synthese zwischen dem Zeugnishaften, dem Poetischen und dem Teuflischen und Infernalen aus, wobei er den untrennbaren Charakter dieser Dimensionen hervorhebt, ausgehend von der Problematisierung des Kriegsverständnisses anlässlich des chilenischen Putsches von 1973, der Diktatur und seinen Eingebungen und Vorahnungen über die Postdiktatur, die sich fatalerweise erfüllt haben.

Der Begriff „Inxilio“ bezieht sich nicht nur auf die Situation derjenigen, denen alle Rechte genommen wurden, auch wenn sie im Gegensatz zu den Exilanten im eigenen Land bleiben konnten. „Inxilio“ bezieht sich auch auf die Reise, die der Dichter unternimmt, ausgehend von der Einsamkeit, der Isolation, dem Umherirren und dem dunklen Abgrund, verstanden als das »Schreiben im Untergrund«, auf der Suche nach einer Verwandlung der Sprache, der Realität und seiner selbst. Diese Konnotation wird in »Intraexilio« deutlicher, das eine Situation der Erinnerung und der Träumerei darstellt, die aus dem politischen Gefängnis heraus gelebt wird und sich um die abwesende geliebte Frau dreht. Die Sehnsucht nach Liebe inmitten der aufgezwungenen Trennung ist Teil dieses Prozesses der radikalen Introspektion und Introversion, als eine innere Konzentration der Lebensenergie.

Memorias en altavoz

Bild: LOM Ediciones

Memorias en altavoz: relato coral de una historia viva (dt. etwa: Lautstarke Erinnerungen. Berichte über eine lebendige Geschichte) ist das Ergebnis des 2005 ins Leben gerufenen Projekts „Söhne und Töchter der Erinnerung“ unter der Leitung von Adriana Goñi Godoy und Natalia Montealegre Iturra, Anthropologinnen und Herausgeberinnen dieses Buches. Es sind 57 Stimmen, und in einem polyphonen Rahmen, wie es im Buch selbst heißt, vervielfachen sich diese 57 Stimmen ins Unendliche. Besonders die Stimmen der Kinder, die durch die Erzählungen der Erwachsenen von heute zu Wort kommen, sind sehr beachtenswert. Alle sind sie Opfer dessen, was der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim als extreme Traumatisierung bezeichnete und was wir heute als komplexes Entwicklungstrauma kennen. Hier gibt es keine größeren oder kleineren Höllen, es sind alles einzigartige Höllen, die nicht quantifiziert, sondern nur qualifiziert werden können.

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Manfred Hausmann

Manfred Hausmann hat schon vor Jahren die Herzen vieler Menschen gewonnen, als er in mutiger Abkehr von der Konvention seinen Schreibtisch in einer Zeitungsredaktion verließ und auf Wanderschaft ging. Damals schrieb er die Romane Lampioon und Salut gen Himmel (auch FAJ Hohmann war begeistert von Salut gen Himmel, wie er in seinem Roman Geliebter Junge auf S. 54 schreibt). Es erwies sich, dass dieser vagabundierende Journalist ein Dichter war. Zwei seiner schönsten Romane sind in diesem Band aus dem Jahre 1955 vereinigt. Jeder hat einen besonderen Reiz durch sein Thema.

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W oder die Erinnerung an die Kindheit

Bild: LOM Ediciones

Georges Perec (1936 – 1982) war einer der bedeutendsten Schriftsteller der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts, bekannt als Autor des Raums und des Spielerischen, ein bedingungsloser Liebhaber von Wortspielen und Spielen aller Art. Sein schriftstellerisches Werk umfasst Romane, Theaterstücke, Gedichte, Essays, Sammelbände, Drehbücher, Artikel und illustrierte Bücher, die in Zusammenarbeit mit einigen Malern entstanden sind. Auch versuchte er sich im Bereich Film und Musik. Von 1967 bis zu seinem Tod war er Mitglied der literarischen Gruppe OuLiPo unter der Leitung von Raymond Queneau und François Le Lionnais. Sein Werk basierte auf Experimenten, bestimmten formalen Einschränkungen als Form des Schaffens und dem ausdrücklichen Vorsatz, niemals dieselbe Idee in zwei Büchern zu wiederholen. Er wurde in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt und gilt gemeinhin als Kultautor. OuLiPo, Akronym für „Ouvroir de littérature potentielle”, auf Deutsch „Werkstatt für potenzielle Literatur”, ist eine 1960 gegründete Gruppe für literarische Experimente, die sich hauptsächlich aus französischsprachigen Schriftstellern und Mathematikern zusammensetzt, die Werke unter Verwendung von Techniken des begrenzten Schreibens (Littérature à contraintes) schaffen wollen.

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