Internationale Tagung: Das andere 68

Anthropophage Revolutionen in der brasilianischen Gegenkultur nach 1968

23.–25. Mai 2018
Museum Angewandte Kunst, Foyer, Schaumainkai 17, Frankfurt am Main
Tagungssprache ist Englisch. Freier Eintritt, ohne Anmeldung.

Die Ereignisse des Pariser Mai bilden nach wie vor einen prominenten Bezugspunkt für kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart – so sehr, dass sich in Deutschland eine ganze Partei über die Ablehnung dessen definieren kann, wofür „68“ in der öffentlichen Wahrnehmung steht. Wenn im Mai 2018 der 50. Jahrestag des Studentenaufstandes begangen wird, richtet sich erneut die ganze Aufmerksamkeit auf die europäische Metropole Paris und die dortigen Ereignisse. Die Tagung „Das andere 68: Anthropophage Revolutionen in der brasilianischen Gegenkultur nach 1968“ stellt dieser eurozentrischen Sicht eine andere Perspektive entgegen und verlagert den Fokus von Paris weg an die vermeintliche Peripherie. Die Tagung stellt einen kulturellen Umbruch ins Zentrum, der einer ganz anderen Revolte entspringt und zugleich den Ausgangspunkt einer Richtungsänderung der globalen Kulturproduktion und einer neuen Art des Umgangs mit der kulturellen Globalisierung bildet: Die Zäsur 1968 in Brasilien und ihre Folgen.

1968 ist in Brasilien das Jahr, in dem die 1965 an die Macht gekommene Militärregierung ihr Unterdrückungsregime entscheidend verschärft und die Folter institutionalisiert. Sie löst damit eine Studentenrevolte aus, deren Folgen und Verzweigungen die Politik des Landes bis heute mit bestimmen (Langland 2013). 1968 ist in Brasilien zugleich das Jahr der „Tropicália“-Bewegung, einer künstlerischen Erneuerungsbewegung, die Musik, Theater und Dichtung erfasst. Inspiriert von der gleichnamigen Installation des neo-konkretistischen Künstlers Hélio Oiticica, der mittlerweile zu den kanonischen Figuren der Gegenwartskunst gehört, verbindet die „Tropicália“-Bewegung Elemente der Populärkultur mit Avantgarde-Techniken. Ihre Protagonisten, wie die Musiker Cateano Veloso, Gilberto Gil, Tom Zé, Gal Gosta und Maria Betanha nutzen das Fernsehen, um ein Massenpublikum zu erreichen und werden zunächst in Brasilien und danach auch in Europa und den USA zu Stars – zu den ersten globalen Popstars aus dem sogenannten globalen Süden, noch vor dem Durchbruch der karribischen Reggae-Musik der 1970er Jahre (Dunn 2014). Im Bereich des Kinos formiert sich 1968 das Cinema Marginal als eine Gegenbewegung zum bereits etablierten Cinema Novo, der modernistischen neuen Welle Brasiliens, die sich an den metropolitanen Vorbildern aus Europa und natürlich in erster Linie an der französischen Nouvelle Vague orientiert (Nagib 2007). Das Cinema Marginal ist letztlich eine nicht intendierte Konsequenz einer nationalistischen Kulturpolitik des Militärregimes, das eine Markt-Quote von 30% für brasilianische Filme verfügt und damit einen Markt für billig produzierte Filme mit populärem Appeal schafft. Das Cinema Marginal verbindet dann allerdings, ganz ähnlich wie die Tropicália-Bewegung und zum Teil in Auseinandersetzung mit dieser, Elemente der Populärkultur mit der Formensprache der Avantgarde. Es erreicht mit einer Kombination aus Genre- und Experimentalfilm immer wieder ein breites Publikum und bringt mit der Schauspielerin und späteren Regisseurin Helena Ignez auch einen eigenen großen Star hervor. Zugleich wird das Cinema Marginal zum Ausgangspunkt einer noch radikaleren Entwicklung, der Super-8-Bewegungen, die ab den frühen 1970er Jahren die neuen Möglichkeiten der Tonfilm-Schmalfilm-Technologie für die Produktion von experimentellen Filmen jenseits der Zwänge des etablierten Produktions- und Verwertungssystems nutzt (Small 2016). In den Humanwissenschaften schließlich wird 1968 zum Ferment einer neuen Richtung in der Anthropologie und Ethnologie, als deren Protagonist der Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro gelten kann, der mit seiner Theorie des Perspektivismus von Claude Lévi-Strauss zu seinem „legitimen Nachfolger“ ausgerufen wird (Viveiros de Castro 2017). Von Viveiros de Castro führt über dessen langjährige Zusammenarbeit mit dem Filmregisseur Ivan Cardoso und mit Hélio Oiticica und dem Dichter Waly Salomão wiederum eine Linie zurück zu den künstlerischen Erneuerungsbewungen der 1970er Jahre.

Quelle: Tropical Underground