Im Prolog von Leni Riefenstahls Olympia-Film ’Fest der Völker‘ wird der Körper des Menschen als ein stählerner, wohlgeformter Adonis-gleicher Körper, dargestellt. Dabei bedient sich die Regisseurin einfacher Techniken, durch welche sie zum Beispiel aus den steinernen Skulpturen zu Anfang des Prologs lebendige Körper werden lässt, die sich, in Anlehnung an olympische Disziplinen, über die Leinwand bewegen. Neben einem Diskus-, Speerwerfer und einem Kugelstoßer kommen aber auch Frauen in das Blickfeld des Betrachters, welche wie die Männer mit nacktem Körper über die Leinwand tanzen. Aus dem tanzenden Reigen der Frauen entwickelt sich ein Feuer, welches sich in die Olympische Flamme verwandelt, die von Griechenland durch Europa nach Deutschland getragen wird. Dabei streift das Auge des Betrachters die Länder Griechenland, Bulgarien, Jugoslawien, Ungarn, Österreich und die Tschechoslowakei mit ihren Hauptstädten Athen (Akropolis), Sofia, Belgrad, Budapest, Wien und Prag, um schussendlich in Berlin im Olympia-Stadion anzukommen.
Das Bild des gestählten Körpers, welches Leni Riefenstahl nachzeichnet, kann im historischen Kontext als Bestätigung für das seelenlose Schönheitsideal der Nazi-Zeit betrachtet werden. Riefenstahl bildet nationalsozialistische Körper in der Idealform ab, welche von Hitler vor der Hitler-Jugend (HJ) einmal als „schlank und rank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ beschrieben wurden. Aus dieser Äußerung Hitlers lässt sich klar erkennen, welche Bedeutung Hitler dieser Regisseurin beimaß und wie wichtig ihre Filme für seine Propaganda waren. Nicht nur die Premiere des NS-Propagandafilms ’Triumph des Willens‘, welche im März 1935 gefeiert wurde, belegen diese Beziehung zwischen Reichskanzler und Regisseurin und verdeutlichen diese Wichtigkeit.
Etwas anders stellt sich der Umgang mit und die Darstellung des jugendlichen Körpers bei Hermann Lietz dar. Lietz, der „als »Vater« der Landerziehungsheime [gilt], die bis in die Gegenwart hinein als bemerkenswerte und anregende Alternativschulmodelle diskutiert werden“, verfolgt das Ziel der „Harmonie von Körper, Geist und Seele“. Für ihn spielen „Turnen, Sport – im guten Sinne des Wortes – kein Jagen nach Preisen, kein Prahlen mit Höchstleistungen“ eine wesentliche Rolle in der Erziehung des Kindes. Mehr noch, es lassen sich Hinweise auf die in den späten 1890er Jahren gegründete Wandervogel-Bewegung finden. Diese „Jugendbewegung förderte Askese, liebte schlichte Lebensformen, pflegte den Geist der Selbstverwaltung, half die Welt erschließen mit den einfachsten Mitteln“. Lietz umschreibt eben diese Askese als „die religiös-sittliche Atmosphäre des Heims“, und weist auf die schlichten Lebensformen hin, indem er fordert, dass in der „Ausstattung der Räume […] das Gesetz der Schlichtheit und Schönheit walten“ soll. Auch das Prinzip der Selbstverwaltung und die Beschränkung auf einfache Mittel finden sich bei Lietz wieder. Er fordert, mit „einfachen Mitteln sollen Musik, Malerei, Bildhauerkunst, Dichtkunst, mimische Darstellung gepflegt werden“ und führt, „soweit es irgend möglich ist, […] von Anfang an Selbstverwaltung von Seiten der Schüler“ durch.
Diese Art des Umgangs Lietz‘ mit Kindern und Jugendlichen lässt einen großen Unterschied zu den von Lena Riefenstahl dargestellten Körpern erkennen, da die Harmonie von Körper, Geist und Seele im Widerspruch zu einem gestählten, seelenlosen Körper steht. Nach Lietz sollte der Tag eines Kindes im „Wechsel zwischen theoretischer und praktischer Beschäftigung, zwischen Spiel, freier ungehemmter Betätigung und pflichtgemäßiger Arbeit“ verlaufen, und nicht nur dem Körperkult gewidmet sein.
Parallelen zu der Darstellung des Körpers von Leni Riefenstahl lassen sich allerdings in der Art der Erziehung auch bei Lietz und anderen Reformpädagogen des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederfinden. Die Darstellung eines nackten Körpers, wie er mit Einschränkungen auf die sittliche Moral der damaligen Zeit im Prolog zu dem Olympia-Film ’Fest der Völker‘ zu sehen ist, findet sich bei Lietz zum Beispiel in den Vorschriften des Nacktbadens. „Die Jungen sollten stolz sein, auf die Badehose verzichten zu können.“ Paul Geheeb, Gründer der Odenwaldschule und neben Gustav Wyneken und Hermann Lietz einer der führenden Reformpädagogen, stilisierte die Nacktheit des Körpers dahingehend, dass er sich in Anlehnung an das Bild ’Lichtgebet‘ von Fidus in gleicher Pose fotografieren ließ. Das Foto zeigt ihn nackt auf einem Felsen, das Gesicht dem Himmel zugewandt, nur die Arme läßt er herunterhängen und streckt sie nicht, wie bei Fidus, dem Licht entgegen.
Leni Riefenstahl ist zweifellos eine Legende, deren zwiespältiger Ruhm bis heute anhält. Der irische Filmexperte Liam O’Leary charakterisierte Riefenstahl einmal mit einem Satz, der bald zum Lieblingszitat der Filmliteratur werden sollte: „Sie war ein Genie, aber ein politischer Trottel.“ In dem Buch ’Leni Riefenstahl. Karriere einer Täterin‘ stellt Nina Gladitz in Frage, ob Riefenstahl tatsächlich ein Genie war, ebenso wie die Vorstellung, sie sei ein politischer Trottel gewesen. Ganz im Gegenteil: Riefenstahl gelang es wie kaum einer Zweiten, stets auf der Seite der Sieger und Mächtigen zu stehen, so Gladitz. Sie dreht daher den Satz von O’Leary um: Riefenstahl war keine Ausnahmekünstlerin, dafür aber ein politisches Genie – was sich anhand neuer Archivfunde belegen lässt, die einen Abgrund erkennen lassen, der bislang durch ihren Geniestatus verdeckt wurde.
In ihrem Buch legt Nina Gladitz neue, belegbare Details über die Arbeitsmethoden und -strategien Leni Riefenstahls zum Schaden von 123 Menschen vor, die Riefenstahls Selbstdarstellung in einem anderen Licht zeigen und eine Neubewertung Leni Riefenstahls und ihres Tuns geradezu erzwingen. Auch ihre Rolle im Falle von Willy Zielke, dem „ärgsten Feind und Rivalen, den sie paradoxerweise zugleich so sehr bewunderte wie sonst nur Adolf Hitler, wenn auch aus ganz anderen Gründen“, kommt nach intensiven Recherchen zur Sprache. Nach Aussage von Gladitz wurde Zielke „gleich zu Beginn seiner sechsjährigen Gefangenschaft in Psychiatrien und Lagern zwangssterilisiert“, und es ist Riefenstahl zu verdanken, dass er „der Öffentlichkeit nie bekannt werden sollte“, da sonst „ihre Karriere womöglich an ihrem mangelnden Talent und ihren unzureichenden Erfahrungen gescheitert“ wäre.
Damit ist auch die oben genannte einfache Technik und das angeblich von Riefenstahl nachgezeichnete Bild des gestählten Körpers nicht dem Können von Leni Riefenstahl zu verdanken, sondern der Verdienst eines Mannes, der trotz „seiner großen Bedeutung für die deutsche Filmgeschichte“ aufgrund der vielen Intrigen und Lügen von Riefenstahl nie eines Blickes gewürdigt wurde, obwohl sie immer auf ihn zurückgriff, sobald es ihr notwendig erschien. „Seit der frühen Beschäftigung der internationalen Filmhistoriker, […] gab es fast nur apologetische Sichtweisen auf Riefenstahl, die teilweise auf regelrechte und daher auch unkritische Verehrung hindeuten. […] Ergebnisoffene Recherchen wurden seither [seit dem Erscheinen der Memoiren von Leni Riefenstahl im Jahr 1987] nicht mehr vorgelegt.“
Nina Gladitz starb am 26. April 2021 in ihrem Heimatort Schwäbisch Gmünd.