Die Pandemie und das Ende des Neoliberalismus

In einem Artikel erörtert der argentinische Soziologe Atilio Borón die außergewöhnlichen und globalen Konsequenzen, die die aktuelle Coronavirus-Pandemie haben könnte. Atilio Borón beginnt seinen Artikel damit, dass er der These Slavoj Žižek widerspricht, dass der Kapitalismus durch die Pandemie bereits eine Art Buffalo Bill-Knockout erleidet, und kehrt damit zu Lenins klassischer These zurück, dass der Kapitalismus nicht untergehen wird, wenn es keine sozialen und politischen Kräfte gibt, die ihn zu Fall bringen. Und solche revolutionären Kräfte scheint es derzeit weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten oder Lateinamerika zu geben. Žižek beharrt auf seiner These, indem er sagt, dass verschiedene Formen eines neu erfundenen Kommunismus wahrscheinlich im Übergang (nach der Pandemie) entstehen werden, d.h. in einer Zwischenphase, in der es möglich ist, weg von der Barbarei, die der Kapitalismus mit sich bringt, zu leben und sich in Richtung humanerer Zivilisationsformen zu bewegen. Dies wäre bereits ein großer Schritt vorwärts, aber es hängt vom Klassenkampf selbst ab, obwohl es auch passieren könnte, dass wir der vom Kapitalismus aufgezwungenen verschärften Barbarei, mit brutaleren Formen wirtschaftlicher Ausbeutung, politisch-staatlicher Nötigung und Gewissensmanipulation durch eine immer schärfere Mediendiktatur, noch näher kommen.

Auf der anderen Seite ist Noam Chomsky, der Donald Trump vor allem die Schuld dafür gegeben hat, dass er Informationen, die er hatte, verheimlicht hat und dass er in seinem Land, das jetzt hart getroffen wird, unberechenbare und unzeitgemäße Maßnahmen ergriffen hat, der Meinung, dass die gegenwärtige Pandemie, die die Welt durchmacht, ein kolossales Versagen des Marktes und der neoliberalen Politik bedeutet, welche die tiefgreifenden sozioökonomischen Probleme, die wir durchleben, verschärft haben. Er fügt hinzu, dass wir uns jetzt in einer Situation echter sozialer Isolation befinden und diese überwinden müssen, indem wir auf jede erdenkliche Weise soziale Bindungen wiederherstellen, auf eine Art und Weise, die den Menschen in Not helfen kann, indem wir Kontakt mit ihnen aufnehmen, Organisationen entwickeln, Analysen erweitern. Bevor wir diese aber funktionsfähig und einsatzbereit machen, müssen Pläne für die Zukunft geschmiedet werden, die Menschen im Internet-Zeitalter so zusammen gebracht werde, wie dies eben im Internet-Zeitalter möglich ist, um zusammen zu kommen, uns zu beraten, zu beratschlagen und Antworten auf die Probleme zu finden, mit denen wir konfrontiert sind, und daran zu arbeiten, was getan werden kann. Noam Chomsky schliesst: „Wir müssen andere Wege finden und die unternommenen Aktivitäten fortsetzen, ja sogar erweitern und vertiefen. Es ist machbar. Es wird nicht leicht sein, aber wir Menschen haben in der Vergangenheit schon ganz andere Probleme gehabt“.

Es scheint eine weit verbreitete und übereinstimmende Schlussfolgerung zu sein, dass die Ausbreitung der Pandemie in praktisch allen Regionen der Welt weitgehend auf ein Wirtschaftssystem zurückzuführen ist, das in erster Linie darauf abzielt, die Gewinne von Einzelpersonen oder Unternehmen zu steigern, anstatt den Menschen zu nützen. Viele der öffentlichen Gesundheitssysteme, die mit den privaten konkurrieren oder in denen die privaten den öffentlichen unzweifelhaft überlegen sind, befinden sich vor der Pandemie in einem ernsthaften Zusammenbruch, gerade weil sie nicht gewappnet oder ohne jegliche praktische Vorbereitung auf ein Phänomen sind, dessen Bevorstehen schon Monate vor seiner Manifestation bekannt war. Die Gesundheitssysteme zogen es vor, sich der Verantwortung zu entziehen, bevor sie sich auf ein Phänomen vorbereiten, das lange im Voraus angekündigt worden war. Es bestand keine Notwendigkeit, ohne bereits bestehenden Druck zu investieren, wie es die guten Gesetze des Marktes vorschreiben, denn es könnte eine nutzlose Verschwendung sein. Profit also vor dem Gemeinwohl, vor allem, wenn das Wohl für den Privatmann und nicht für die Gemeinschaft ist.

Das übereinstimmendste Kriterium in Bezug auf die Pandemie ist, dass die Zeit nach der Pandemie nicht mit der Zeit vor der Katastrophe identisch sein kann. Nicht weil es eine Revolution im klassischen Sinne geben wird, sondern weil die Gesellschaft als Ganzes nicht mehr die gleiche Arroganz hinnehmen kann, die der Kapitalismus bisher gezeigt hat. Viele werden sehen, dass der Staat von grundlegender Bedeutung ist und dass die Verwaltung der Gesellschaft nicht dem Privatsektor überlassen werden kann, denn in seinen Händen können wir nur Katastrophen wie die gegenwärtige oder viel schwerwiegendere erwarten. Nicht der Markt, sondern der Staat, der in echten Demokratien normalerweise mit einem viel reichhaltigeren, weitsichtigeren und großzügigeren sozialen Kriterium geführt werden kann und muss als der Markt, der stets mit einer Kurzsichtigkeit und einem Egoismus handelt, die durch die Coronavirus-Pandemie erneut unter Beweis gestellt wurden.

Die neoliberale Globalisierung neigt sich dem Ende zu. Aber, wie bereits gesagt, wird das Phänomen nicht ausschließlich durch die Gewalt des Virus motiviert sein, sondern durch die politische Fähigkeit, die die Staatsoberhäupter der verschiedenen Länder unter Beweis gestellt haben, unabhängig davon, ob sie in der Lage sind, die Marktwirtschaft zu beenden oder grundlegend zu verändern. Mit anderen Worten, die Weltgesellschaft steht heute vor der Herausforderung, zu zeigen, dass eine andere Globalisierung und ein anderes Wirtschaftssystem, das in seiner ganzen Legitimität als postkapitalistisch bezeichnet werden kann, möglich ist. Die Marktwirtschaft hat wieder einmal, auch durch die Pandemie, ihre fast völlige Erschöpfung gezeigt, und es hat sich auch gezeigt, dass der Markt also nicht die „natürliche Ordnung“ der Dinge ist und dass der Staat dann eine viel entscheidendere Rolle in den Gesellschaften übernehmen kann und muss. Eine andere Globalisierung wäre möglich. Der freie Markt hat sich als fast vollständig erschöpft erwiesen. Es stimmt nicht, dass der Markt die „natürliche Ordnung“ der Dinge ist, weshalb der Staat eine minimale Rolle spielen muss, wie im Neoliberalismus behauptet wird. Im Gegenteil, es ist der Staat, der zusammen mit den Bürgern in einem wirklich demokratischen Regime die Gesetze und Regeln des Zusammenlebens festlegen muss, die eine gleiche wirtschaftliche und soziale Entwicklung für alle und ohne unbegründete Privilegien ermöglichen.

Wir brauchen einen neuen Sozialvertrag. Hoffen wir, dass die gegenwärtige Pandemie das bereits vorhandene soziale Bewusstsein stärkt, das eine große Kraft für den wirtschaftlichen und sozialen Wandel sein wird. Es gibt gesellschaftliche Kräfte, die sie vorantreiben. Aber heute besteht die Aufgabe darin, von jetzt an, aus der Quarantäne heraus, all unsere Energie darauf zu verwenden, Erfolg zu haben, indem wir uns gegen diejenigen stellen, die den Tod im Namen der wirtschaftlichen Wiederbelebung vorziehen. Wir müssen alles tun, um das Virus zu besiegen, in Kenntnis aller Mängel unseres Gesundheitssystems, das von 30 Jahren Neoliberalismus zerschlagen wurde, welcher der Privatisierung des Gesundheitswesens Vorrang vor allen anderen Überlegungen einräumte. Wir haben nicht genug molekulare Tests, noch Betten, noch Beatmungsgeräte. Unsere Ärzte, Krankenschwestern und Mitarbeiter im Gesundheitswesen sind erschöpft und unterbezahlt. Und eine hoffnungslos gefräßige Klasse kämpft immer noch aktiv für den Erhalt ihrer Privilegien.

Quelle: Victor Flores Olea