Ein völlig eigenständiges Begehren

Der erotische Roman Geschichte der O (fr. Originaltitel: Histoire d’O) von Anne Cécile Desclos, die ihn unter dem Pseudonym Pauline Réage veröffentlichte, erschien im Jahr 1954, übte auf die Entwicklung der erotischen Literatur großen Einfluss aus und ist wohl einer der bekanntesten  Romane der Welt mit sadomasochistischen Beschreibungen. Trotz der mangelnden Wirksamkeit von Techniken zur Gehirnwäsche sollte man über die in diesem Buch vorliegende Interpretation der Welt und den Wert dieser Sichtweise als physische und spirituelle Erfahrung nachdenken. Eine der Schlüsselszenen ist die Beschreibung, in der René seine Geliebte O, die erfolgreiche Pariser Modefotografin, zu Sir Stephen führt und sie im Namen ihrer Liebe zu René gehorcht, doch als sie mit Sir Stephen alleine ist, entdeckt sie, dass der Akt der Prostitution neben der Liebe ein völlig eigenständiges Begehren weckt, in dem nicht mehr René und der Gehorsam seinem Willen gegenüber präsent sind, sondern Sir Stephen und die Intensität der Empfindungen, die O durch ihre Scham und ihr Begehren in ihrem Körper spürt.

Bezeichnend dabei ist das Stöhnen vor Lust, das sie nicht vermeiden kann, obwohl es sie demütigt, und ihre absolute Unterwerfung gegenüber Sir Stephen, um in dieser Unterwerfung weiterhin ihr eigenes Vergnügen zu finden, auch wenn dieser sie wiederum zwei seiner jungen Landsleute überlässt, von denen einer sie einfach zwingt, vor ihm zu knien, um in ihren Mund zu ejakulieren, der andere sie aber mit in sein Hotelzimmer nimmt und sie auf jede erdenkliche Art und Weise bis nach Mitternacht benutzt. Am nächsten Tag, als O wieder bei Sir Stephen auftaucht, findet sie ihn mit verzerrtem Gesicht und gealtert vor, weil der zweite Junge bei Sir Stephen aufgetaucht ist, um ihm mitzuteilen, dass er in O verliebt ist und sie heiraten und erlösen möchte. Daher muss Sir Stephen sie daran erinnern, dass sie seine Sklavin ist, solange sie dem zustimmt, dies zu sein, sich aber nicht einfach jederzeit befreien kann. Natürlich zögert O keinen Moment lang. Ihre fortwährende Verfügbarkeit, „ihre Sklaverei“, diese totale Form des Gehorsams, um ein Vergnügen zu finden, das letztlich in ihr stärker ist als in jedem von denen, die sich ihrer bedienen, ist eine hohe Form der Befreiung, und obwohl die Bemerkung den Nachhall einer unerträglichen Plattitüde trägt, hat sie etwas Religiöses an sich. Dabei ist O auch durch die äußerlichen Beschreibungen ihres Körpers in dem Roman und die inbegriffene Lieblichkeit, die in ihrem weiblichen und unendlichen Bedürfnis, zu verführen, vorhanden ist, äußerst bewundernswert.

Letztendlich ist Histoire d’O ein Roman, der als Handbuch für Frauen geschrieben wurde, auch wenn das nur wenige zugeben würden und sich damit der Anerkennung von etwas berauben, das sie leiten sollte: die Überlegenheit von O. Es gehört viel dazu, so zu erscheinen, es für so wenig einzutauschen und die eigene Integrität aufzugeben, nur um geliebt zu werden.