In seinem Essay »Linguistik der Lüge« (8. Auflage 2016 [1967]) versucht Harald Weinrich unter anderem sich der Frage zu nähern, ob sich die Semantik für das Phänomen Lüge interessieren soll. Dabei geht er an einer Stelle auch auf die immer wieder aufkommende alte Behauptung der Unübersetzbarkeit von Sprachen ein:
„Es erübrigt sich […] die alte Klage, Sprachen seien im Grunde unübersetzbar. »Gemüt« entziehe sich als deutsches Wort ebenso der Übersetzung wie »esprit« als französisches Wort, »business« als amerikanisches Wort. Dilettantische Argumente dieser Art sind ebenso wertlos wie ärgerlich. Die Wörter »Feuer«, »rue«, »car« sind auch nicht übersetzbar. Kein Wort ist übersetzbar. Aber wir brauchen auch gar keine Wörter zu übersetzen. Wir sollen Sätze und Texte übersetzen. Es macht nichts, daß sich die Wortbedeutungen von einer zur anderen Sprache für gewöhnlich nicht decken. Im Text kommt es sowieso nur auf die Meinungen an; und die kann man passend machen, man braucht nur den Kontext entsprechend einzustellen. Texte sind daher prinzipiell übersetzbar.“
Die hier angesprochene Meinung ist das altbekannte Dilemma eines Sprechers, wenn er „dem Hörer von einem bestimmten, unverwechselbaren Feuer berichten“ will und ihm dafür „nur Wörter mit ihren weitgespannten, vagen, sozialen und abstrakten Bedeutungen zur Verfügung“ stehen. „Was sonst noch in der Bedeutung »Feuer« stecken mag, interessiert ihn gar nicht, das meint er nicht. Er hat also, während er sich der Bedeutung bedient, eine Meinung, die nicht mit dieser identisch ist.“ Dabei ist diese Meinung nicht weitgespannt, sondern eng umgrenzt; nicht vage, sondern sehr präzise; nicht sozial, sondern individuell; und auch nicht abstrakt, sondern konkret. „Bedeutung und Meinung sind die beiden Grundbegriffe der Semantik“.
Was lässt sich daraus schließen? „Sind Übersetzungen also Lügen“, weil sie immer nur die Meinung des Übersetzers wiedergeben und nicht unbedingt mit der Bedeutung einzelner Wörter des zu übersetzenden Textes übereinstimmen? Vielleicht hilft hier die alte Regel, an die man sich nach Weinrich bei dem Thema der Übersetzung halten sollte: „Übersetzte Wörter lügen immer, übersetzte Texte nur, wenn sie schlecht übersetzt sind.“