Ablehnung der neuen Verfassung Chiles

Nach Jahren des vielleicht wichtigsten politischen Wandels in der jüngeren Geschichte Chiles, der mit dem sogenannten Primavera 2019 begann und zur Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung führte, lehnten die Chilenen das ab, was den Höhepunkt dieses politischen Wandels darstellen sollte: Sie sagten Nein zu einer neuen Verfassung, welche die während der Diktatur von Augusto Pinochet verabschiedete Verfassung ersetzen sollte. Allerdings scheint der Prozess hier noch nicht zu Ende zu sein, denn sowohl die Regierung als auch die Opposition haben versprochen, sich um eine neue Verfassung zu bemühen, nicht aber um eine Reform der derzeitigen Verfassung. Die Chilenen lehnten den Vorschlag für eine fortschrittliche Verfassung, die ein breiteres Spektrum an Stimmen in dem wichtigsten Dokument des Landes widerspiegeln sollte, rundweg ab. Die vorgeschlagene Verfassung über die sozialen Rechte findet zwar breite Unterstützung, und es ist klar, dass der Staat diese Rechte garantieren sollte, aber die Art und Weise, wie diese neue Charta vorgeschlagen wurde, sorgte im Vorfeld für Unruhe.

Die vorgeschlagene Verfassung, die vom linksgerichteten Präsidenten Gabriel Boric unterstützt wurde, enthielt 388 Artikel, mit denen die sozialen Rechte erheblich erweitert, die Umweltvorschriften verschärft und der Regierung mehr Verantwortung für Sozialprogramme übertragen worden wären. Gleichzeitig hätte sie auch für eine vollständige Geschlechterparität gesorgt und zusätzliche Sitze für Vertreter indigener Völker vorgesehen. Viele Menschen hielten es für notwendig, nach einer Lösung zu suchen und nicht nur nach irgendeiner Lösung. Und es ist auch klar, dass viele Fragen, die hier aufgeworfen wurden, erneut diskutiert, aber nicht so gelöst werden, wie es die neue Charta vorgeschlagen hat. Die abgelehnte Verfassung wäre eine der fortschrittlichsten der Welt gewesen und hätte dem Staat eine führende Rolle bei der Gewährleistung sozialer Rechte zugestanden. Der Entwurf der Verfassung legte großen Wert auf indigene Selbstbestimmung und Umweltschutz und hätte das stark privatisierte System der Wasserrechte abgeschafft. Es hätte die Gleichstellung der Geschlechter in allen öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen gefordert und die Achtung der sexuellen Vielfalt festgeschrieben. Darüber hinaus hätte es ein neues nationales Gesundheitssystem vorgesehen.

Nun stellt sich die Frage, wie die Regierung und die Opposition zu einer Einigung kommen sollen, wenn es ihnen dieses Mal nicht gelungen ist. Die Entscheidung des chilenischen Volkes verlangt von den Institutionen und politischen Akteuren, dass sie härter arbeiten, mit mehr Dialog, mit mehr Respekt und Zuneigung, bis sie zu einem Vorschlag kommen, der alle versteht, der Vertrauen schafft und das Land vereint. Ähnliches war auch vonPräsident Boric zu hören, ein Präsident, der in den Augen vieler zu den großen Verlierern dieses Wahltages gehörte.