Karl May auch für das 21. Jahrhundert eine lohnende Lektüre

Karl May, der häufig auf einige Film-Klischees reduziert wird, verdient eine differenzierte Betrachtung. Seine überaus einflussreiche Repräsentation außereuropäischer Kulturen ist selbst längst Teil der europäischen Kulturgeschichte und lehrreiches Exempel einer produktiven und autoreflexiven Begegnung mit Alterität. Gerade weil in seinen Texten Vorurteile vorausgesetzt, verbalisiert, bekämpft und überwunden werden, ist er keineswegs ›überholt‹, sondern auch für das 21. Jahrhundert eine lohnende Lektüre.

Auf der Plattform Petitionen [dot] com ist jetzt im Zuge der von dem Ravensburger Verlages zurückgezogenen Publikationen ein offener Brief unter dem Titel „Ist Winnetou erledigt?“ von der Karl-May-Gesellschaft un der Karl-May-Stiftung veröffentlicht worden. Die Entscheidung des Ravensburger Verlags, aufgrund eines in den sozialen Medien erhobenen Rassismusvorwurfes mehrere Publikationen rund um den Film Der junge Häuptling Winnetou zurückzuziehen, hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst.

Als eigentlicher Sündenfall wurde von Seiten dekolonialer Aktivisten der Bezug zu Karl May gekennzeichnet, der angeblich ein überholtes rassistisches Weltbild vertrete und den Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas romantisiere oder verschweige. Dazu wird in dem jetzt veröffentlichten offenen Brief wie folgt Stellung bezogen:

1. Als deutscher Schriftsteller des 19. Jahrhunderts ist Karl May unvermeidlich vom Habitus eines kolonialen Zeitalters geprägt. Beim Verfassen seiner Reiseerzählungen kreierte er aus den Wissensbeständen der zeitgenössischen Ethnographie exotische Fluchtwelten für seine bürgerliche Leserschaft, die gleichzeitig als phantastische Bewährungsräume für ein literarisch überhöhtes Ich fungieren. Insbesondere seinen frühen Texten sind daher damals gängige ethnische Stereotypen und eine eurozentrische Perspektive eingeschrieben. Diese kritisch herauszuarbeiten und auf ihre Quellen zurückzuführen, ist Aufgabe der Literatur- und Kulturwissenschaft.

2. Die zeitbedingte Weltsicht teilt Karl May mit praktisch allen Autorinnen und Autoren der Vergangenheit. Die Besonderheit Karl Mays besteht darin, dass in seiner Darstellung des ›Wilden Westens‹ von Anfang an die Sympathie des Erzählers der leidenden indigenen Bevölkerung gilt. Ihre Würde und ihre menschlichen Qualitäten verkörpern sich in Idealfiguren wie Winnetou, dem Häuptling der Apachen, und die tragische Vernichtung ihrer materiellen und kulturellen Existenz grundiert alle May’schen Nordamerika-Erzählungen. Auch an anderen Schauplätzen – in Südamerika und Südafrika, im Mittleren und Fernen Osten – werden Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung, Sklaverei und gewaltsame Mission mit ihren Motiven und Folgen immer wieder drastisch vor Augen geführt und unmissverständlich verurteilt. Überhebliche Verachtung außereuropäischer Kulturen, rassistische Sprache und religiöse Intoleranz sind bei Karl May durchgehend Merkmale negativ gezeichneter Antagonisten. Hierdurch hat der Autor bei seiner großenteils jugendlichen Leserschaft zweifellos über mehrere Generationen hinweg als Erzieher zu Toleranz und Weltoffenheit gewirkt.

3. Durch die autodidaktische Beschäftigung mit Geschichte, Religionen und Sprachen außereuropäischer Kulturen erhob sich Karl May im Laufe seines Schriftstellerlebens zunehmend über den chauvinistischen Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts. Unter dem Eindruck einer langen Orientreise stellte er sein literarisch bedeutendes Spätwerk ganz in den Dienst überkonfessioneller Humanität und entwickelte am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Utopie einer von gegenseitigem Respekt getragenen Menschheitsverbrüderung. Dieser idealistische Teil seines Schaffens tritt im allgemeinen Bewusstsein bis heute zu Unrecht hinter den populären Abenteuererzählungen zurück.

4. Der Ravensburger Verlag begründet seine Entscheidung mit der Beobachtung, dass eine auf Karl May basierende Darstellung des Apachenhäuptlings Winnetou die Gefühle anderer Menschen verletzt habe. Wenn dies der Fall ist, so werden Wunden nicht dadurch geheilt, dass man den Verursacher – oder stellvertretend für ihn eine historische Künstlerpersönlichkeit – kurzerhand ausradiert. Im Gegenteil bedarf eine wirksame und nachhaltige Therapie der expliziten Auseinandersetzung mit den Ursachen.

Schon in einer Meldung aus Mai 2022 hat die Karl-May-Gesellschaft deutlich Stellung bezogen zu der Frage, ob heute noch ›Indianerbücher‹ gelesen werden können. Die Karl-May-Gesellschaft begrüßt die breite Debatte über die Rechte aller ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen und beteiligt sich aktiv an der wissenschaftlichen Aufarbeitung diskriminierender Diskurse. Sie glaubt, dass dieser noch lange nicht abgeschlossenen Diskussion durch die kritische Auseinandersetzung mit historischen Texten, einschließlich ihrer zeitbedingten Sprache, besser gedient ist als durch das Vermeiden oder gar Verfälschen problematischen Materials.

Aufgrund ihrer Handlung, ihres weltanschaulichen Gehalts und ihres generationenlangen Einflusses sind die Texte Karl Mays besonders gut dafür geeignet, Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts für die historische Bedingtheit von ethnischen Stereotypen und Geschlechterrollen zu sensibilisieren. Sie zeigen den Autor als einen Menschen, der in den Denk- und Ausdrucksgewohnheiten seines Umfelds befangen und auf die damals verfügbaren Informationen angewiesen, aber zeit seines Lebens bemüht war, zu einem gerechteren Urteil zu gelangen. Die Verbrechen von Kolonialismus und Sklaverei, die pauschale Geringschätzung anderer Kulturen und die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen werden in Mays populären Abenteuererzählungen unmissverständlich verurteilt. Sein Spätwerk ist ein engagiertes Plädoyer für Toleranz und Völkerverständigung.

Wir sollten in einer weltoffenen Gesellschaft nicht dazu neigen, Literatur, die aus heutiger Sicht nicht (mehr) unserem Weltbild entspricht, zu vernichten, sondern lernen, Literatur in ihrem Kontext zu sehen und entsprechende Kontexte, wo nötig, wissenschaftlich und gesellschaftlich aufarbeiten. Die genannte Petition kann hier mitunterzeichnet werden.