Das Land meiner Träume

Im Oktober 2019 führte die Erhöhung der Metropreise in Santiago de Chile zu heftigen sozialen Protesten. Über eine Million Menschen demonstrierten für ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem und eine neue Verfassung. Diese sollte die strengen Regeln ersetzen, die dem Land während der Militärdiktatur Pinochets auferlegt worden waren. An vorderster Stelle der Proteste: Die Frauen, deren Sprechgesänge besonders laut erklingen. Der Filmemacher Patricio Guzmán hält die langersehnte Revolte in seiner Heimat mit eindringlichen Bildern von den Straßen Santiagos und in Interviews mit zahlreichen AktivistInnen fest und liefert ein erfrischendes Zeitdokument, das fesselt, aber auch unter die Haut geht.

Als 2019 über 1.5 Millionen Menschen in Santiago de Chile mit demokratischen Forderungen auf die Strasse gehen, kommt das selbst für Patricio Guzmán überraschend – auch er hat nicht mit dieser Form von kollektivem Aktivismus gerechnet. Was Guzmán mit Mi país imaginario (2022, dt. Das Land meiner Träume) vorlegt, ist nicht nur eine Erinnerung an diese Proteste – es zeigt auch einen Aufbruch und vermittelt Hoffnung. Der Film ist angesiedelt zwischen Reportage und Reflexion. Die darin enthaltenen Reflexionen tragen die Handschrift des Altmeisters und machen den Film enorm bereichernd. Die Reportagen machen ihn zu einem der direktesten in dem bisherigen Werk von Guzmán. Im Orchester aus Kochtöpfen, Steinen und Sprechchören erklingen die Frauen besonders laut. Die Proteste zeigen die Mobilisierungskraft der Frauen, es kommt zur Uraufführung des Protestsongs gegen Gewalt an Frauen, der daraufhin um die ganze Welt gehen sollte: «El violador eres tú! – der Vergewaltiger bist du!» Ob in Madrid, Melbourne, Lausanne, Istanbul oder Caracas, der Song fand weltweit Nachahmerinnen. Mi país imaginario zeigt erschütternde Aufnahmen von Protesten an vorderster Front und Interviews mit engagierten AktivistInnen und stellt auf eindrucksvolle Weise eine Verbindung zwischen der komplizierten und blutigen Geschichte Chiles, den aktuellen revolutionären sozialen Bewegungen und der Wahl eines neuen Präsidenten, Gabriel Boric, her.