Der Roman Nadie me verá llorar von Cristina Rivera Garza, einer mexikanischen Soziologin, Historikerin und Schriftstellerin, ist ein fiktionaler Text. Er hat seine eigenen Codes, die sich von denen einer sozio-historischen Untersuchung unterscheiden, auch wenn die Autorin 1995 am Historischen Institut der Houston Universität promoviert hat. Heute arbeitet sie als Außerordentliche Professorin für Hispanistik und Direktorin des Programms für kreatives Schreiben an eben dieser Universität und ist Autorin von sechs Romanen und zahlreichen Sammlungen von Kurzerzählungen.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Geschichte der Liebe und/oder Besessenheit eines Fotografen zu einer Prostituierten und Verrückten. Joaquín Buitrago, ein Fotograf von Dirnen und Geisteskranken, erkennt in einer Verrückten aus La Castañeda, einer Irrenanstalt, die der frühere Präsident Mexikos, Porfirio Díaz, 1910 in einer ehemaligen Hazienda in Mixcoac eingeweiht hat, eine Prostituierte namens Matilda Burgos, die er Jahre zuvor in La Modernidad kennengelernt hatte. Genau dafür stehen ihm die Mittel zur Verfügung: Sein Auge ist ein Fotoapparat, sein Fotoapparat oder seine ’Daguerreotypie‘ ist die notwendige „Identifizierungs“-Ausrüstung, und so wie die Fotografie zur Kontrolle der Frauen auf der Straße als eine Art sanitäres und polizeiliches Phantombild eingesetzt wurde, so wurde sie auch zur Kontrolle in den Irrenanstalten verwendet.
Wie die Schmetterlinge in der Sammlung eines Entomologen haben die gesunde Gesellschaft und ihr wissenschaftlicher Arm stets versucht, die Identität derjenigen zu bestimmen, denen es zu helfen gilt und die gleichzeitig zu isolieren sind. Und wer könnte besser helfen als die Fotografie. Der Fotograf Joaquín Buitrago, der Matildas Identität bestätigen will, versucht, die Krankenakte der Frau zu beschaffen, die sich im Besitz (unter seiner Kontrolle) von Dr. Eduardo Oligochea, dem leitenden Psychiater von La Castañeda, befindet. Auf diese Weise lernt der Leser diese andere Figur kennen, die vor allem durch ihr reflexives Verhältnis zur Sprache fasziniert, und man ahnt als Leser, dass die Autorin eine ähnlich quälende Beziehung beim Schreiben ihres Romans hat.
Der Roman verwendet Dokumente und Fiktion. Die realen Dokumente, die autobiografischen Texte der Patienten, sind in einem anderen Schriftbild gehalten, das sich von der fiktionalen Autorität unterscheidet. Umkehrung und Verschmelzung von Serien: Rivera Garza verwendet dokumentarische Elemente in ihrer Fiktion. Nadie me verá llorar folgt einem Trend, der im zeitgenössischen Roman auch anderswo erkennbar ist. Wenn Roberto Bolaño in einem langen Modul seines Romans Nocturno de Chile ausführlich auf die Geschichte der Erhaltung der europäischen Kirchen eingeht; wenn Jorge Volpi in seinem Roman En busca de Klingsor die Arbeit deutscher Wissenschaftler in der Nazizeit wieder aufgreift; wenn Santiago Gamboa in Los impostores von den Abenteuern einer Reihe multinationaler Figuren erzählt, die auf der Suche nach einem chinesischen Manuskript sind, kann man leicht erkennen, dass jedem dieser Texte lange Studien- und Recherchearbeiten vorausgingen, wahrscheinlich weil sie alle in diesem Sinne auf die enzyklopädische Lehre von Jorge Luis Borges zurückgreifen. Diese Form des zeitgenössischen lateinamerikanischen Romans fügt dem Kosmopolitismus „Gelehrsamkeit“ hinzu. Und Rivera Garzas Roman fällt teilweise mit dieser Form zusammen.