Deutsche Erinnerungslücken

Bild: wbg THEISS

Vor dem Hintergrund der deutschen Erinnerungslücken versammeln die Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina in ihrem Buch Offene Wunden Osteuropas: Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs Berichte osteuropäischer Zeitzeugen in Form von zehn Essays, geschrieben im lebendigen Reportage-Stil. Obwohl als populärwissenschaftliches Buch verfasst, handelt es sich um die perfekte Einführung in die blutige Geschichte Osteuropas und bereitet ein schwieriges Thema gut lesbar auch für Nicht-Experten auf, ohne es dabei zu sehr zu vereinfachen.

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist das Fundament Europas und prägt unsere gemeinsame Gegenwart und Zukunft. Doch was wissen wir wirklich über den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa? Beide Autorinnen plädieren für eine gemeinsame Erinnerung, aus der ein neues europäisches Bewusstsein entstehen kann, und laden dazu ein, sich mit der Geschichte der eigenen Groß- und Urgroßeltern zu beschäftigen.

Katja Makhotina und Franziska Davies machen in diesem Zusammenhang aber auch klar, dass es nicht ausreicht, Erinnerungen zu vertrauen. Ein Großvater der einen Autorin entkam knapp der Blockade Leningrads durch die Deutschen, sein Cousin überlebte als einziger den Holocaust. In der anderen Familie arbeitete ein Großvater daran, das gewerbliche polnische und jüdische Vermögen zu Gunsten des Reiches beschlagnahmen zu lassen. „Über seine Zeit als Wehrmachtssoldat an der West- und Ostfront wissen wir nichts. Und das Wissen, das wir haben, stammt nicht etwa aus dem Familiengedächtnis, sondern ist das Ergebnis einer Archivrecherche“, so die Autorinnen über einen der Großväter. Mit Fakten, Rückgriffen auf ihre Familiengeschichten und in Gesprächen mit Überlebenden, Studierenden und Historikern veranschaulichen sie die Dimensionen des Vernichtungskriegs.

In der Einleitung des Buches, das in persönlichen Berichten und Gesprächen mit Zeitzeugen zeigt, wie unterschiedlich die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg in Deutschland und Osteuropa ist, wird die Frage gestellt: „Haben wir die falschen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen, vielleicht auch deswegen, weil über achtzig Jahre nach seinem Beginn die Erinnerung an den Krieg im östlichen Europa so lückenhaft ist?“ Die Kollaboration von Polen und Ukrainern mit den Deutschen wurde verschwiegen, und auf deutscher Seite wurden in der Nachkriegszeit Kriegsverbrechen der Wehrmacht juristisch nur unzureichend aufgearbeitet. Ein deutliches Plädoyer, nach der Lektüre dieser Einführung der Erinnerungskultur in Deutschland neuen Aufwind zu geben.