Skulptur der „Tlalli“

Bild: José Antonio López / La Jornada

In einem Gastbeitrag in La Journada schreibt Claudia Sheinbaum, aktuelle Regierungschefin von Mexiko-Stadt, über die Skulptur einer indigenen Frau, die auf der Prachtallee Paseo de la Reforma in Mexiko-Stadt anstatt einer Statue von Christoph Kolumbus aufgestellt wird (und deren Aussehen viele Fragen und Polemiken aufwirft).

Sheinbaum weist zunächts darauf hin, dass die Geschichte der so genannten „Entdeckung Amerikas“ auf verschiedene Weise betrachtet werden kann. Die vorherrschende Sichtweise aber sei eine, so Sheinbaum, welche die Figur des Kolumbus verherrlicht. Eine solche Sichtweise stelle einen Mann von großer Komplexität in den Mittelpunkt und vereinfache seine Darstellung, indem sie sein Europäertum, seine Tapferkeit und sein Heldentum hervorhebt. Damit werde eine Figur aus der Vergangenheit mythologisiert, um die Invasion und Kolonisierung Amerikas mit europäischen, d. h. „zivilisatorischen“ Augen zu verstehen.

Damit werde aber auch eine bittere Realität verschwiegen, da die Ausrottung und Versklavung der Ureinwohner sowie die Barbarei (und nicht der zivilisatorische Akt) totgeschwiegen werde. Auch verschweige diese Sichtweise den Ursprung eines tiefgreifenden Rassismus, der bis heute anhält.

Nach Ansicht von Sheinbaum ist die Versetzung der Kolumbus-Statue und ihre Ersetzung durch die Statue einer indigenen Frau eine Bewegung gegen das historische Schweigen. Es sei ein Anspruch derjenigen historischen Persönlichkeiten, die am meisten vergessen und verletzt wurden: dies bedeute, das Erbe einer Vision zu hinterlassen, welche nicht nur die Beteiligung derjenigen rettet, die zum Schweigen gebracht wurden, sondern sie auch in den Mittelpunkt stellt. Das bisherige historische Schweigen würde dann zu einer Stimme, zu einem Weg, zu einer Zukunftsmöglichkeit. Die neue Betonung, die dieses neue Denkmal, die Skulptur der „Tlalli“ mit sich bringt, soll Mexiko helfen, sich an den Ursprung zu erinnern, die weibliche Figur als Protagonistin einer Vergangenheit zu sehen – eine Position, die ihr bisher vorenthalten wurde. Den Platz der Frauen im Lauf der Geschichte neu zu bestimmen, bedeute aber auch, ihren Platz in der Gegenwart zurückzuerobern. Es gehe also darum, einen Bewusstseinswandel herbeizuführen, in dem Frauen stolz auf ihre Protagonistenrolle sein sollen und nicht durch Unterlassung und Unterwerfung zum Schweigen gebracht werden, was die Geschichte der Frauen und insbesondere der indigenen Frauen bisher immer geprägt habe.

Kolumbus bedeutete zweifellos einen Wandel in der Weltgeschichte, aber wie dieser Wandel verstanden wird, ist das, was heute in Frage gestellt werden sollte. Eine Frau, insbesondere eine indigene Frau, an diese Stelle zu setzen, bedeutet, so Sheinbaum, den historischen Blick zu überdenken. Es bedeutet, die Geschichte von einem anderen Ort aus zu erzählen. Das bedeutet, sich vor die eigene Vergangenheit und damit vor die eigene Gegenwart und Zukunft zu stellen, und zwar aus der Sicht der indigenen Frauen, die ein wesentlicher Teil der Geschichte des amerikanischen Kontinents sind. Es bedeutet aber auch, dass heutige und künftige Generationen von Frauen sich als Macherinnen der Geschichte erkennen können. Dies ist der Bewusstseinswandel, denn es ist eine ethische Verantwortung, die Vergangenheit zu überdenken, um die Ungerechtigkeiten der Gegenwart zu verändern. Nur so kann der Rassismus und der Klassismus, den heute zu erleben ist, bekämpft werden. Der Wandel muss an der Wurzel ansetzen, und deshalb muss der eigene historischen Blick neu ausgerichtet werden. Dieses Denkmal, so betont Sheinbaum, erinnert an den Mut und den Widerstand von Menschen, die trotz ihrer Kämpfe und ihres Widerstands jahrhundertelang zum Schweigen gebracht wurden, obwohl sie zwar besiegt wurden, aber nie aufgegeben haben.

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