Zensur an Hochschulen

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) hat in einem Artikel vom 27.02.2021 auf die auch an Hochschulen immer weiter um sich greifende „Cancel Culture“ hingewiesen. Dort geht es um eine Vorlesung des Wirtschaftshistorikers Gregory Clark mit dem Titel For Whom the Bell Curve Tolls: A Lineage of 400.000 Individuals 1750–2020 Shows Genetics Determines Most Social Outcomes. Laut FAZ soll „[a]us Sicht des Dekans der Glasgower Business School […] der Titel eine Anspielung auf das Buch „The Bell Curve“ des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Charles Murray und des Harvard-Psychologen Richard Herrnstein [sein], das Mitte der neunziger Jahre eine scharfe Kontroverse auslöste, weil Murray und Herrnstein darin über die Verteilung und Vererbbarkeit von Intelligenz sowie IQ-Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen schrieben. Dies wurde als rassistisch skandalisiert“. Da das umstrittene Buch an der Hochschule nicht erwähnt werden solle, wurde Clark vom Dekan gedrängt, die Worte „Bell Curve“ aus dem Titel seiner Vorlesung zu streichen, weigerte sich aber, weshalb die Vorlesung kurzerhand ganz abgesagt wurde.

Ähnlich gelagerte Zensur ist auch in Deutschland zu finden: Der Streit über das Gedicht »avenidas« aus dem Jahr 1952 von Eugen Gomringer an der Alice-Salomon-Hochschule entbrannte hauptsächlich an der Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt. Die Form, die für Gomringer im Mittelpunkt des Gedichts steht, interessiert die Kritiker des Poems kaum mehr. Das Gedicht bestätige gesellschaftliche Wert­hierarchien und Normsetzungen, ­indem es den männlichen Blick reproduziere, der Frauen eine Rolle ­zuweise, während der Mann das handelnde Subjekt des Gedichtes sei, der eine beobachtende, bewundernde Funktion einnehme. Im Mittelpunkt steht eine im Gestus des »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen« vorgetragene Verteidigung der Kunstfreiheit, in der gegenüber der Kritik die gleiche Ignoranz offenbar wird, die die Studierenden der Hochschule gegenüber dem Formbegriff der Konkreten Poesie und ihren politischen Aspekten zeigt. Dennoch wurde das Gedicht an der Wand der Hochschule übermalt.

In dem oben von der FAZ erwähnten Artikel findet sich auch ein kleiner Abschnitt über die Universität Edinburgh, welche vergangenes Jahr seinerseits den Aufklärungsphilosophen David Hume aus dem 18. Jahrhundert „gecancelt“ hat, nachdem eine Gruppe Studenten (Achtung: generisches masculinum) wegen einer Fußnote in einem Essay über die angebliche „natürliche Inferiorität“ von Schwarzen protestiert hatte. Der Name des Philosophen und Ökonomen wurde daraufhin von einem Gebäude entfernt. Wie gut ist es da zu wissen, dass trotzdem der Name David Hume noch in Dissertationsschriften erscheinen darf, wie in dem kürzlich erschienenen Buch über Kants Theorie der Selbstsetzung (vgl. z. B. S. 15 oder auch S. 208 ff.) nachzulesen ist.