Jan Stehle hat sich in seiner Dissertation am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin mit dem Fall Colonia Dignidad beschäftigt, um den Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 1961-2020 in Chile zu untersuchen. Dabei wollte er auch dem Gerücht nachgehen, Bundesbehörden hätten die Verbrechen der Colonia Dignidad gedeckt. Die von der Rettig-Kommission, einer von der ersten demokratisch gewählten Regierung nach der Diktatur in Chile eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission, festgestellten Verbindungen der Colonia Dignidad mit Diktaturverbrechen wurden nicht strafrechtlich untersucht oder gar verfolgt. Chilenische Menschenrechtsaktivisten, aber auch progressive chilenische Medien erklärten dies mit der Existenz nicht näher beschriebener Unterstützungsnetzwerke der Colonia Dignidad. Aber auch von Seiten der bundesdeutschen Diplomatie erhalte die Colonia Dignidad Schutz. Insgesamt, so seine Wahrnehmung, sei die Colonia Dignidad eine Art Staat im Staate, für den die Regeln der chilenischen Politik und Justiz nicht gelten, was auch von der Bundesregierung gedeckt werde. Stehle wurde von chilenischen Gesprächspartnern regelmäßig gefragt, wie er sich als deutscher Staatsbürger dies erklären könne, was seine Motivation verstärkte, Antworten auf diese Frage zu suchen.
Nun ist seine umfangreiche Dissertation im transcript Verlag erschienen. Dazu hat Jan Stehle in umfangreichen Recherchen Primärquellen aus Behörden- und Privatarchiven erschlossen. Er rekonstruiert detailliert die Verbrechen sowie das respektive Behördenverhalten und legt die Mitverantwortung von Bundesbehörden für die schweren Menschenrechtsverletzungen der Colonia Dignidad offen. Seine Arbeit kann entweder als Buch erworben werden, ist aber auch dank des Fachinformationsdienstes Politikwissenschaft POLLUX und einem Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften als PDF oder ePUB frei zugänglich.
Jan Stehle, geb. 1974, lebt in Berlin, wo er am Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) tätig ist. Der Politikwissenschaftler, Ökonom und Menschenrechtsaktivist forscht seit Jahren zum Thema Colonia Dignidad und setzt sich auf verschiedenen Ebenen für die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen ein.