Die Strasse zum 10. Juli

Nona Fernández zählt heute zu den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen der chilenischen Literatur. Die Schauspielerin, die sich als Drehbuchautorin für Telenovelas ihren Lebensunterhalt verdient, schreibt auch Theaterstücke und hat mittlerweile zahlreiche Preise für ihr literarisches Schaffen erhalten, u. a. 2003 (für Die Toten im trüben Wasser des Mapocho) und 2008 (für Die Straße zum 10. Juli) den chilenischen Literaturpreis Premio Municipal de Literatura in der Kategorie Bester Roman. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt und erlangten im spanischsprachigen Raum schon viel Beachtung, ebenso wie ihre Erinnerungsarbeit auf der Bühne. Denn ihre Bedeutung als Schriftstellerin besteht nicht nur darin, Geschichten zu schreiben, sondern insbesondere darin, dass sie aktiv an chilenischer Geschichte mitschreibt, historische Lücken und Umdeutungen anmahnt, an die Vergessenen erinnert und das Schweigen bricht. In ihrem Roman Die Straße zum 10. Juli (Originaltitel Av. 10 de julio Huamachuco, übersetzt von Anna Gentz) tut sie dies zum ersten Mal auch mit der von dem deutschen Paul Schäfer in Chile begründeten Colonia Dignidad und zieht damit erstmals eine explizite Verbindung zur deutschen Geschichte.

Immer wieder zieht es Greta in die »Straße zum 10. Juli« in Santiago de Chile. Es ist die berühmte Straße der Ersatzteilverkäufer. Hier sucht Greta die nötigen Teile, um den Schulbus, in dem ihre einzige Tochter tödlich verunglückte, wieder zusammenzusetzen. Die Suche führt sie zurück in ihre eigene Vergangenheit und in das verlassene Haus ihrer Jugendliebe Juan, das als einziges Gebäude der Gegend trotzig den Abrissplänen einer Baufirma widersteht. Doch Juan ist verschwunden, so wie damals die Freunde der kommunistischen Jugendbewegung zu Zeiten der Militärdiktatur, so wie die Kinder der Colonia Dignidad. Doch irgendwo in einem Loch im Boden werden sie alle gefangen gehalten, all die Verschwundenen. Irgendwo unter der Erde Chiles brodelt es gewaltig.

Der Roman von Nona Fernández mahnt das Schweigen über die nahe Vergangenheit an. Die Verbrechen unter der Militärdiktatur, die weder vor Jugendlichen noch Kindern haltmachten und sogar dankbar an flüchtige Sexualstraftäter outgesourct wurden. (Die Auseinandersetzung mit der Rolle der deutschen Außenpolitik bei der Entstehung der Colonia Dignidad findet gerade ganz aktuell statt.) Alles ist miteinander verwoben, es gibt kein Einzelschicksal, das sich von der kollektiven Geschichte befreien könnte.