Die wöchentliche Beilage La Jornada semanal setzt sich in ihrer Ausgabe vom 19. Dezember 2021 erneut mit der Frage der Menschenopfer und dem Kannibalismus bei den Mexicas auseinander. Miguel Ángel Adame Cerón geht dabei in seinem Artikel zunächst auf den Kreuzzug von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) ein, den jener gestartet hat, um die indigene Bevölkerung um Vergebung für die Verbrechen zu bitten, die ihnen während der spanischen Invasion und Eroberung vor fünfhundert Jahren angetan wurden. AMLO wandte sich dabei auch mit einer Petition an das spanische Königshaus und die Regierung sowie an Papst Franziskus, sich dazu zu äußern. Er selbst als mexikanisches Staatsoberhaupt hat sich bereits dazu geäußert, mit dem Ziel, das Jahr 2021 zu einem Jahr der „historischen Versöhnung“ zu machen.
Die Antwort der spanischen Regierung war negativ, mit dem Argument, dass die Ankunft der Spanier vor fünfhundert Jahren in die heutigen Gebiete von Mexiko nicht nach zeitgenössischen Überlegungen und Gesichtspunkten beurteilt werden könne. Der Papst seinerseits antwortete in einem Brief mit der Absicht, eine Neuinterpretation der Vergangenheit unter Berücksichtigung der Licht- und Schattenseiten des Landes zu stärken, und fügte hinzu, dass diese rückblickende Betrachtung notwendigerweise einen Prozess der Reinigung des Gedächtnisses, des Erkennens der in der Vergangenheit gemachten Fehler, die sehr schmerzhaft waren, beinhalten sollte. Sowohl er als auch seine beiden Vorgänger hätten bei verschiedenen Gelegenheiten für persönliche und soziale Sünden und für alle Handlungen oder Unterlassungen gebetet, die nicht zur Evangelisierung beigetragen haben.
Einige Tage später antwortete auch der „pro-monarchistische“ argentinische Schriftsteller Marcelo Gullo, Autor des Buches Madre Patria. Desmontando la leyenda negra desde Bartolomé de las Casas hasta el separatismo catalán, und bekräftigte, dass Hernán Cortés ein Befreier Mesoamerikas war, denn er war es, der es den durch den menschenfressenden Imperialismus der Azteken unterworfenen Völkern ermöglichte, zu feiern und sich für die vielen Jahre zu rächen, in denen die Azteken ihre Kinder, ihre Brüder und Schwestern, ihre Väter zum Haupttempel schleppten und ihnen dort buchstäblich das Herz bei lebendigem Leib herausrissen. Diesen seien dann ihre Körper in Stücke geschnitten worden, damit sie, nachdem sie „wie Schweine oder Hühner geschlachtet“ worden waren, dazu dienen konnten, für den Adel und die aztekischen Priester als „reichhaltige Nahrung“ zu dienen.
Damit lebte, anlässlich des Gedenkens an den Jahrestag des Falls von Tenochtitlán, der ideologische Kampf in den höchsten Kreisen der Macht und unter den Intellektuellen über das Verhalten der Spanier und Mesoamerikaner wieder auf: ihre jeweiligen leyendas negras.
Auch ein Text der argentinischen Journalistin Claudia Peiró mit dem Titel “El canibalismo imperial de los Aztecas, una verdad incómoda para los críticos de la Conquista” weist darauf hin, dass die andere Seite der leyendas negras über die Kolonisierung Amerikas durch die Spanier die Idealisierung der präkolumbianischen Welt ist, die als ein Eden dargestellt wird, in dem die Ureinwohner in Harmonie miteinander und mit der Natur lebten. Die Erhabenheit der aztekischen Kultur, verkörpert durch ihre monumentalen Bauwerke, oder auch der „Sozialismus“ der Inka, waren Elemente eines Narrativs, hinter dem sich die unerbittliche Herrschaft dieser Reiche über andere ethnische Gruppen verbarg, die sie unterjochten, ausbeuteten, ausplünderten und in einigen Fällen buchstäblich verschlangen. Peiró bezieht sich hier auf die Tatsache, dass die mexikanischen Menschenopfer eine Realität waren, die zu verblassen drohte, nun aber durch die seit 2015 von mexikanischen Archäologen entdeckten Überreste des Huey Tzompantli oder der Schädelwand des Templo Mayor sich erneut bestätigt; sie erwähnt, dass der Chronist Andrés de Tapia dies bereits beschrieben hat (er seinerseits spricht von 136.000 Schädeln, die er gezählt habe) und dass mit den jüngsten Entdeckungen neu hinzukäme, dass einige Schädel von Frauen und Kindern waren, nicht nur von männlichen vermeintlichen Kriegsgefangenen.
Die leyendas negras werden begleitet von ideologischen Rechtfertigungen und historischen sowie historiographischen Wendungen. Entschuldigungen sind vielleicht insofern notwendig, als es in diesen Prozessen, wie AMLO sagte, „herzlose“ Handlungen gab, aber solche Entschuldigungen reichen nicht aus, da Kolonialismus, Kapitalismus und Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen weiter bestehen. Die wahre Befreiung von diesen Versklavungen muss noch realisiert werden.