Macht und Gegenmacht in Lateinamerika

Bild: Mandelbaum Verlag

Im Gegensatz zur politischen Gewalt des vergangenen Jahrhunderts hat die neue Gewalt in Teilen Lateinamerikas eine scheinbar unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt und keine klar erkennbaren Schaltzentren, oft gar kein erkennbares Ziel. Sie ist expliziter und zugleich undurchschaubarer, lokaler und globaler: scheinbar kann jeder ihr Akteur oder Opfer sein, und die Grenzen zwischen dem Legalen und dem Illegalen, zwischen Staat und organisierter Kriminalität, verrechtlichtem und rechtlosem Leben scheinen zu verschwimmen.

Wie lassen sich die Beziehungen zwischen Ebenen und Orten dieser gewaltsamen Gegenwart denken – vom Körper bis zum Globalen, von Europa bis Lateinamerika? Wo und von wem wird Macht heute organisiert und ausgeübt? Welchen Zweck erfüllt die Gewalt, und wie lassen sich ihre globale Verstrickung entschlüsseln? „Gewalt [ist] nicht nur rassistisch, patriarchal oder klassenspezižsch strukturiert […], sondern [bringt] die dahinterliegenden sozialen Konstruktionen und Kategorien beständig neu hervor[…]. Sie ist ein zunehmend zentrales Element der neoliberalen Subjektivierung und permanenten Eroberung, indem sie nicht nur Körper zerstört, sondern auch die Territorien, und diese dem direkten ZugriŽff des Kapitals preisgibt.“ (S. 13).

Der Sammelband Geographie der Gewalt von Timo Dorsch, Jana Flörchinger und Börries Nehe (Hg.) ist in vier Rubriken unterteilt : Narrar, Cuerpo, Comunidad und Memoria und „versteht sich als Beitrag zu globalen, internationalistischen Debatten und Widerstandspraktiken und lotet Fragen aus, die dem Verstehen, dem Erklären und dem Unterbrechen von Gewalt nachgehen, um Neues zu schaffŽen: neue Gedanken, neue Erfahrungen, neue Begegnungen, neue Konstellationen, neue Wege“ (S. 15). Unter Narrar versammeln sich Beiträge, die sich mit einer grundlegenden Logik der Gewalt im lateinamerikanischen Kontext befassen. Die Rubrik Cuerpo thematisiert die Verbindungslinien zwischen patriarchaler und kolonialer Gewalt und zwischen Körper und Raum. Die Beiträge in dem mit Comunidad betitelten Teil fragen nach den Bedingungen für Gemeinschaftlichkeit, und wie Gewalt seitens der dominierenden staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen jene Gemeinschaftlichkeit fragmentiert und zu zersetzen droht. Und schließlich versucht sich Memoria an einer Unterbrechung oder auch an einer Nicht-Wiederholung der Vergangenheit. „Dieses Buch ist der Versuch, ausgehend von den vielen darin enthaltenen Stimmen eine Linie zu skizzieren, die von der Betrachtung der Gewalt, über das Verstehen der Gewalt bis hin zur Überwindung der Gewalt reicht“ (S. 18).