Kolumbianische Schattenseiten

Erzählungen (1): Kolumbianische Schattenseiten

In den nächsten Wochen erscheinen hier vorab Ausschnitte aus den Erzählungen, die Ende des Jahres 2021 in einem Buch veröffentlicht werden sollen.

Carlos, ein junger Mann von 24 Jahren, war gebürtig aus Mocoa, der Hauptstadt des kolumbianischen Bezirks Putumayo, der im Süden an den Bezirk Cauca grenzt. Er stellte sich der Familie von Lupita als Kaufmann von Handelswaren aus Ecuador vor, womit er auch seine wiederholten Abwesenheiten, die sich über mehrere Wochen hinziehen konnten, erklärte.
An dem Tag des unerwarteten Wiedersehens mit seiner Braut in dem Vorort von Popayán kam er allerdings nie in dem Haus an, zu dem er Lupita zuvor per Telefon bestellt hatte. Stattdessen wurde sie dort von den drei Brüdern von Carlos empfangen, er selbst aber tauchte bis zum Abend nicht auf. Und er war es auch, den die bewaffneten Männer suchten, die in dieser Nacht in das Haus eindrangen, indem sie die Tür aufbrachen. Laut einem Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte, zwang das Überfallkommando Lupita mit ihrem kleinen Sohn David, sowie Jorge, einen der jüngeren Brüder von Carlos, aus dem Haus zu gehen. Sobald sie vor dem Haus waren, setzten sie alle drei mit vorgehaltener Waffe auf einen weißen Pritschenwagen und verschleppten sie noch in derselben Nacht an einen unbekannten Ort. Den beiden anderen Brüdern, die im Haus geblieben waren, hinterließen sie eine an Carlos adressierte Nachricht auf einem Stück Papier, welches sie deutlich sichtbar in der Küche an die Wand nagelten, und auf dem mit einfacher Handschrift geschrieben stand:
„Grüße von Lupita und David. Übergeben Sie das, was Sie haben, oder Sie werden die beiden nie mehr wiedersehen.“
Damit begann das bittere Weihnachtsfest für Maria, ihren Mann Ernesto und den Rest der Familie. Ihre Tochter Lupita, die jüngste von vier Geschwistern, und ihr 11 Monate alter Enkel tauchten in Popayán nirgends auf, und niemand hatte sie je wieder gesehen.

Fortsetzung folgt…

Schatten über Leni Riefenstahl

Im Prolog von Leni Riefenstahls Olympia-Film ’Fest der Völker‘ wird der Körper des Menschen als ein stählerner, wohlgeformter Adonis-gleicher Körper, dargestellt. Dabei bedient sich die Regisseurin einfacher Techniken, durch welche sie zum Beispiel aus den steinernen Skulpturen zu Anfang des Prologs lebendige Körper werden lässt, die sich, in Anlehnung an olympische Disziplinen, über die Leinwand bewegen. Neben einem Diskus-, Speerwerfer und einem Kugelstoßer kommen aber auch Frauen in das Blickfeld des Betrachters, welche wie die Männer mit nacktem Körper über die Leinwand tanzen. Aus dem tanzenden Reigen der Frauen entwickelt sich ein Feuer, welches sich in die Olympische Flamme verwandelt, die von Griechenland durch Europa nach Deutschland getragen wird. Dabei streift das Auge des Betrachters die Länder Griechenland, Bulgarien, Jugoslawien, Ungarn, Österreich und die Tschechoslowakei mit ihren Hauptstädten Athen (Akropolis), Sofia, Belgrad, Budapest, Wien und Prag, um schussendlich in Berlin im Olympia-Stadion anzukommen.

Das Bild des gestählten Körpers, welches Leni Riefenstahl nachzeichnet, kann im historischen Kontext als Bestätigung für das seelenlose Schönheitsideal der Nazi-Zeit betrachtet werden. Riefenstahl bildet nationalsozialistische Körper in der Idealform ab, welche von Hitler vor der Hitler-Jugend (HJ) einmal als „schlank und rank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ beschrieben wurden. Aus dieser Äußerung Hitlers lässt sich klar erkennen, welche Bedeutung Hitler dieser Regisseurin beimaß und wie wichtig ihre Filme für seine Propaganda waren. Nicht nur die Premiere des NS-Propagandafilms ’Triumph des Willens‘, welche im März 1935 gefeiert wurde, belegen diese Beziehung zwischen Reichskanzler und Regisseurin und verdeutlichen diese Wichtigkeit.

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La última marinera

Melacio Castro Mendoza versammelt in La última marinera über fünfzig Kapitel in Form einer romanhaften, mythischen und nicht-fiktionalen Allegorie, in der Teile der Geschichte und der Anthropologie verwoben sind, denotativ ethnographisch mit ethnologischen und ethnozentrischen Nuancen, die sowohl den peruanischen als auch den internationalen Rassismus anprangern. Unter dem Impuls eines kämpferischen Geistes der individuellen und kollektiven Verwirklichung subsumiert der Autor den Übergang von der Dunkelheit der Rückständigkeit zum Licht des Fortschritts in Form eines Vergleichs – ein Kontext, in dem die modernen Fortschritte der Küste und des deutsch-europäischen städtischen Fortschritts miteinander verwoben sind und die Illusionen des ländlichen Gehöfts Amargura, einem fiktiven Ort, offenbaren. Um sein Ziel zu erreichen, nutzt Castro Mendoza eine mythisch-magische Kulisse, aufgeladen mit einer faszinierenden Oralität. Mit erzählerischer Plastizität durchläuft er verschiedene globale Szenarien, die eine angegriffene prähispanische, indigene, amazonische, schwarze und mestizische kulturelle Vielfalt zeigen, eingehüllt in einen durch die verheerendste chronische Korruption verherrlichten kreolischen Schwung. Dabei bezieht er den Tanz la marinera als Symbol der Fruchtbarkeit und Freude, die Arbeit als gemeinschaftlichen Wert für die Entwicklung der Wiedervereinigung der Seele mit der Natur, sowie die ethische Tapferkeit, noch bevor diese ein ideologisches Gut ist, als Grundlage des besten politischen Modells in jeder Zeit und an jedem Ort mit ein.

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Deportes: The Making of a Sporting Mexican Diaspora

Das Buch Deportes: The Making of a Sporting Mexican Diaspora umspannt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und enthüllt die verborgenen Erfahrungen mexikanischer Sportlerinnen und Sportler, Mannschaften und Ligen sowie ihrer Unterstützer, die auf beiden Seiten der Grenze für mehr Gleichberechtigung kämpften. Trotz der weit verbreiteten Meinung, dass Mexikaner körperliche Betätigung, Teamwork oder „guten Sportsgeist“ mieden, bewiesen sie, dass sie in einer Vielzahl von Sportarten auf Amateur-, semiprofessionellem, olympischem und professionellem Niveau mithalten konnten. Einige machten sich sogar einen Namen in der Sportwelt, indem sie als „erste“ mexikanische Sportler die großen Ligen erreichten und olympische Medaillen oder Weltmeistertitel im Boxen und Tennis errangen.

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Ein völlig eigenständiges Begehren

Der erotische Roman Geschichte der O (fr. Originaltitel: Histoire d’O) von Anne Cécile Desclos, die ihn unter dem Pseudonym Pauline Réage veröffentlichte, erschien im Jahr 1954, übte auf die Entwicklung der erotischen Literatur großen Einfluss aus und ist wohl einer der bekanntesten  Romane der Welt mit sadomasochistischen Beschreibungen. Trotz der mangelnden Wirksamkeit von Techniken zur Gehirnwäsche sollte man über die in diesem Buch vorliegende Interpretation der Welt und den Wert dieser Sichtweise als physische und spirituelle Erfahrung nachdenken. Eine der Schlüsselszenen ist die Beschreibung, in der René seine Geliebte O, die erfolgreiche Pariser Modefotografin, zu Sir Stephen führt und sie im Namen ihrer Liebe zu René gehorcht, doch als sie mit Sir Stephen alleine ist, entdeckt sie, dass der Akt der Prostitution neben der Liebe ein völlig eigenständiges Begehren weckt, in dem nicht mehr René und der Gehorsam seinem Willen gegenüber präsent sind, sondern Sir Stephen und die Intensität der Empfindungen, die O durch ihre Scham und ihr Begehren in ihrem Körper spürt.

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Nekropolitik in Mexiko

Nach Foucault zeichnet sich die Moderne durch die Ersetzung des nekropolitischen Verständnisses der Souveränität durch die biopolitische Verwaltung der Bevölkerung aus. Allerdings ist die foucaultsche Idee der Biomacht als ein Gefüge aus Disziplinierungsmacht und Biopolitik laut Achilles Mbembe nicht ausreichend in der Lage, die modernen Formen der Unterwerfung zu erklären: Sie lässt den Fortbestand nekropolitischer Techniken innerhalb liberaler Demokratien außer Acht und unterschätzt die zentrale Bedeutung kolonialer Sklaverei als Bedingung der Möglichkeit für die Entwicklung des westlichen Kapitalismus. Die Macht der Souveränität tritt durch die Schaffung von Zonen des Todes in Kraft, in denen der Tod zur ultimativen Ausübung von Herrschaft und zur primären Form des Widerstands wird. Nekromacht ist zum Schlüsselkonzept für die Erkenntnis einer verallgemeinerten Instrumentalisierung des Lebens und der materiellen Zerstörung der Erde im globalen postkolonialen Zustand geworden.

Im Mandelbaum Verlag ist kürzlich ein Buch von Timo Dorsch erschienen, das genau diese Nekropolitik in Mexiko thematisiert. Im Kontext wuchernder Drogenkriege, wirtschaftlicher Gewalt auf der Grundlage einer Verschuldungspolitik, Rassismus, Sexismus, neokolonialer Besetzung, Masseneinsperrungen, ökologischer Ausbeutung, Einschränkungen des Rechts auf Migration und kultureller Zerstörung wirft Dorsch einen Blick auf den Neoliberalismus, den Staat und das organisierte Verbrechen in Mexiko. Als ein G20-Land und ­beliebtes internationales Reiseziel, das seit fast einem Jahrhundert über ein mehr oder weniger funktionierendes demokratisches Regierungssystem verfügt, stellt sich die Frage, ob bei einem Blick auf den Krieg gegen die Drogen, das Drogengeschäft auch heute noch der einzige Wirschaftszweig des organisierten Verbrechens ist. Mexiko muss sich die Frage gefallen lassen, wie überhaupt diese Gleichzeitigkeit zwischen staatlicher Demo­kratie, organisiertem Verbrechen und Gewalt möglich ist. In Nekropolitik geht Timo Dorsch diesem Phäno­men der scheinbaren Widersprüchlichkeit auf den Grund und unternimmt eine systematische Deutung der unzähligen Geographien der Gewalt, in denen die Nekropolitik vorherrscht.

Kurzerzählungen VII: Amelia – Die Nacht – Nach der Verabredung

In dem siebten und letzten Buch aus der Reihe Kurzerzählungen werden drei der cuentos von García Ponce vorgestellt, die diesmal nicht das von ihm bevorzugte und experimentelle Thema der Erotik als Auflehnung gegen das Normale beinhalten. Vielmehr geht es hier um Einsamkeit, Schuld und Selbstreflektion. García Ponce schreibt seine Kurzerzählungen in der Regel volkstümlich, ohne dabei zu sehr in die Folklore abzugleiten. Obwohl in der spanischen Rezeption vielfach die Erotik als das herausragende Merkmal seiner Kurzerzählungen gilt, lenkt diese Sichtweise sehr von dem eigentlichen historischen Wert dieses Autors für die mexikanische Literatur ab, der folgende Generationen auf unterschiedliche Weise nachhaltig geprägt hat.

Buch bei Amazon.

The Family of Man

Bild: e-Shop Steichen Collection

In Jahr 1955 fand unter der Leitung von Edward Steichen im The Museum of Modern Art (MoMA) in New York eine grandiose Fotoausstellung statt. Sie galt als die öffentliche Anerkennung, dass auch die Fotografie in den Museen ankommen sollte.

Für die Auswahl der Bilder, die Teil dieser Ausstellung waren, benötigte Steichen drei Jahre. Er und seine Assistenten analysierten mehr als eine Million Fotografien aus der ganzen Welt und zeigten schließlich 503 Fotografien aus 68 Ländern und von 273 berühmten und unbekannten Fotografen: Männern und Frauen, Amateuren und Profis. Die Ausstellung folgte dabei dem Ansatz, sich auf eine Reise durch das Leben des Menschen von der Geburt bis zum Tod zu konzentrieren, wobei alle Phasen und Ereignisse durchlaufen werden: Geburt, Kindheit, Ausbildung, Jugend, Arbeit, Reife, Gesundheit, Ehe, Alter, Freude, Trauer, Tod, …

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Hombres, los odio

Bild: rowohlt

Nach der Veröffentlichung des Buches „Moi les hommes, je les déteste“ (in Deutschland unter dem Titel „Ich hasse Männer“ bei Rowohlt erschienen), einem Essay von Pauline Harmange über Misandrie, und welcher mehr ist als die bloße Aufforderung, alle Männer zu hassen, entbrannte letztes Jahr eine hitzige Debatte, vor allem in Frankreich (unter anderem hat auch die taz darüber berichtet). Der Duden deutet Misandrie als „krankhafter Hass von Frauen gegenüber Männern“, auch wenn Alice E. Marwick und Robyn Caplan in Drinking male tears: language, the manosphere, and networked harassment (erschienen in: „Feminist Media Studies“. Band 18, Nr. 4. S. 553, 2018) die misandry als eine Abneigung gegen Männer oder eine Verachtung für Männer bzw. eine Reihe tief verwurzelter Vorurteile gegenüber Männern bezeichnen. Der Titel solle als Aufforderung, Männer zu hassen, verstanden werden und sei der Autorin durchaus ernst: „Erst das völlige Ignorieren von Männern, deren Ansprache auch immer etwas Belehrendes […] habe, deren Versuche, charmant zu sein, herablassend wirken, könnte die Gesellschaft endlich verändern“, so die taz.

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Hispanoamerika wird im Spanisch-Unterricht stark vernachlässigt

Was schon vor Jahren bei einer Morphosyntax-Klausur am Institut für Romanistik der Ruhr-Universität Bochum für Unverständnis gesorgt hat, wird durch die von Univ.-Prof. Dr Elissa Pustka und die Univ.-Ass. Linda Bäumler an der Universität Wien gerade durchgeführte Umfrage unter 264 Studienanfängern bestätigt: Wer in der Klausur das Wort „Kühlschrank“ mit „refrigerador“ (sp. aus Mexiko) übersetzt hat, bekam einen Fehler angestrichen, da die angeblich korrekte Antwort „frigorífico“ (sp. aus Spanien) lautete.

Die aktuelle Umfrage belegt, dass sich der Spanischunterricht in Österreich und Deutschland nach wie vor vorwiegend auf Spanien konzentriert, obwohl Spanisch als sogenannte plurizentrische Sprache mit vielfältigen Normen betrachtet wird und die Lehrpläne eigentlich die Berücksichtigung von Sprachvariation einfordern. Dieser auf Spanien konzentrierte Input zeigt sich ebenso deutlich in der Fähigkeit der Studienanfänger, regionale Unterschiede in der gehörten Sprache zu erkennen: Ein im Rahmen der Umfrage durchgeführter Perzeptionstest zeigt, dass der Madrider Akzent am besten identifiziert wird, wogegen nur 26 Prozent der Befragten den Akzent von Mexiko kennen – des immerhin mit Abstand größten spanischsprechenden Landes der Welt, mit mehr als einem Viertel aller Sprecher weltweit (ca. 113 von 442 Millionen). Der Großteil der Befragten gab im Gegensatz dazu an, im Laufe ihres Spanischstudiums vor allem die hispanoamerikanischen Varietäten kennenlernen zu wollen, allen voran Mexiko, gefolgt von Argentinien und Peru. Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen ganz deutlich, dass Schüler so früh und so viel wie möglich mit authentischen Materialien der spanischen Sprache aus aller Welt in Kontakt kommen sollten. Auch im Universitätsstudium sollte auf einen angemessenen Anteil hispanoamerikanischer Lehrender und Themen gesetzt und der immer noch latente Eurozentrismus endlich abgebaut werden.